Astana – Wer nur einen Blick auf den Zwischenstand wirft, könnte womöglich wenig beeindruckt sein: 3:3 steht es beim WM-Match in Astana zwischen Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren nach sechs von 14 Partien. Also vielleicht eine Remis-Serie, wie sie am Beginn klassischer Schachweltmeisterschaften nicht selten vorkommt?

Ding Liren lässt nicht locker.
Foto: IMAGO/SNA/Grigory Sysoev

Die Vermutung könnte irreführender nicht sein. Denn Ding und Nepo liefern sich in Astana seit 9. April den offensten Schlagabtausch, den eine Schach-WM seit vielen Jahren gesehen hat. Insbesondere mit den weißen Steinen scheinen beide Kontrahenten in jeder Partie darauf aus zu sein, den Gegner früh aus dessen Komfortzone zu bugsieren – auch wenn das, wie Dings Weißniederlage in Partie zwei zeigte, mitunter mit erheblichen Risiken verbunden ist.

London Calling

In Runde sechs ist es wieder an Ding Liren, den ersten Zug zu machen. Und er tut das vor dem Hintergrund einer krachenden Niederlage in Partie fünf, die ihn zum zweiten Mal in diesem Match ins Hintertreffen gebracht hat. Umso erstaunlicher, dass der Chinese in der Pressekonferenz nach Runde sechs erneut angeben wird, bis kurz vor der Partie unentschlossen gewesen zu sein, welche Eröffnung er an diesem Sonntag aufs Brett bringen soll.

"Ein wenig amateurhaft" nennt Kommentator Anish Giri im Livestream dieses Herangehen Dings an seine Eröffnungen bei dieser WM. Und Co-Kommentator David Howell – auch er ein starker Großmeister – ergänzt, dass der Chinese gerade mit dieser Lockerheit die Sympathien des Schachpublikums für sich gewinnt.

Schließlich ist es das Londoner System, das von Ding für Partie sechs den Zuschlag bekommt. Lange Jahre als wenig ambitionierte Amateureröffnung verschrien, war es kein geringerer als Magnus Carlsen, der das Damenbauernspiel mit der frühen Läuferentwicklung nach f4 einst auf Top-Level zu einer gefürchteten Waffe schmiedete.

Diagramm: Vitouch

Für Dings Plan in dieser 6. Partie ist die nur wenig zu forcierten Abspielen neigende Eröffnung jedenfalls ideal geeignet: Eine Spielstellung aufs Brett bekommen, Nepos Vorbereitung in scharfen Varianten umgehen und dann schauen, ob sich etwas positioneller Druck ausüben lässt – so wird der Chinese selbst später erklären, warum er sich für London entschieden hat.

Spiegelbilder

Dass all das sehr rasch aufzugehen scheint, ist einerseits Dings Klasse und andererseits wohl Jan Nepomnjaschtschis Ungeduld geschuldet. Wie schon in seinem WM-Match gegen Magnus Carlsen gelingt es dem Russen wieder einmal nicht, sich in kritischen Situationen auf die Hände zu setzen und Gebrauch von seiner Bedenkzeitreserve zu machen. Bereits als Nepo ausgangs der Eröffnung nonchalant zulässt, dass Ding den Damenflügel des Nachziehenden mit 16. a5 schwarzfeldrig hemmt, zeichnen sich die Konturen eines langfristigen weißen Positionsvorteils ab.

Paradoxerweise ist die Partie fast ein Spiegelbild von Runde fünf: Da orchestrierte Nepomnjastschi eine Symphonie auf den weißen Feldern, bei der Dings schwarzfeldriger Läufer nicht mitzuspielen vermochte. In Partie sechs ist es nun Ding, der die schwarzen Felder beherrscht und Nepos weißfeldrigen Läufer geschickt umspielen wird. Und hier wie da wird ein bis nach h5 vorstoßender weißer Randbauer zum Sargnagel für den in seiner Burg festsitzenden schwarzen König.

Zwar verpasst Ding 23.b4!, was ihm nach Ansicht von Computern wie menschlichen Experten noch größeren Vorteil garantiert hätte. Auch der vom Chinesen gewählte Zug 23. Tb3 ist jedoch nicht übel und zwingt Nepomnjaschtschi, sich überaus präzise zu verteidigen, wenn der Russe nicht in einem verlorenen Endspiel landen will.

Diagramm: Vitouch

Zungenschnalzer

Eine Aufgabe, der sich der weiterhin schnell spielende Nepo zunächst gewachsen zeigt – bis er mit 35…Dc1+? in einer taktisch hochkomplexen Stellung die falsche Abzweigung wählt. Dass der Schwarze seinen Laden nach dem coolen 35…Dxc3! zusammenhalten könnte und nach 36. Sxf7 nicht matt wird, obwohl seinem König ein konzertierter Angriff von Dame, Turm und Springer des Anziehenden droht, gehört allerdings zu jener Sorte silizium-basierter Erkenntnisse, die mit begrenzter Bedenkzeit selbst der Nummer zwei der Weltrangliste zu hoch sind.

Und so bekommt Ding Liren Gelegenheit zu beweisen, dass er es nicht nur gemächlich und positionell kann: Das Mattnetz, das der Chinese mit 41. d5 zu knüpfen beginnt und schließlich mit 44. Df7 festzurrt, lässt nicht nur Anish Giri mit der Zunge schnalzen. Trotz eines bis nach a2 vorgerückten Freibauerns ist Schwarz hilflos, weil es gegen 45. Dxg8+!! Kxg8 46. Ta8+ Kf7 47.Tf8# (oder 46…Kh7 47.Th8#) keine sinnvolle Verteidigung gibt.

Diagramm: Vitouch

Also streckt Jan Nepomnjaschtschi nach 44 Zügen mit einem anerkennenden Lächeln die Waffen. Bereits zum zweiten Mal in diesem hin- und herwogenden Match muss der Russe den Ausgleichstreffer hinnehmen, es steht 3:3.

Nach einem Ruhetag folgt am Dienstag Partie sieben, bei der Nepo mit den weißen Steinen wohl versuchen wird, zum dritten Mal in Führung zu gehen. Schon jetzt haben die Partien dieser WM das Schachpublikum in aller Welt begeistert. Wer den Wettkampf letztlich für sich entscheiden und sich zum neuen Weltmeister krönen wird, scheint nach großartigen sechs von maximal 14 zu spielenden Partien jedenfalls absolut offen. (Anatol Vitouch, 16.4.2023)