Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forums Alpbach, fordert in seinem Gastkommentar eine stärkere geopolitische Rolle Europas ein.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat das Richtige zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort gesagt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat richtige Sachen am richtigen Ort aber zum falschen Zeitpunkt gesagt.

Der Auftritt der europäischen Politik in China vergangene Woche hat vielleicht einigen von ihnen geholfen, Konturen zu gewinnen. Aber er hat der Position Europas in der Welt keinen guten Dienst erwiesen.

Wohin soll es gehen? Emmanuel Macron und Ursula von der Leyen trafen kürzlich Chinas Präsidenten Xi Jinping.
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Inhalt ist wichtig, aber er muss konsistent sein. Das war er nicht. Protokoll ist auch wichtig. Macron hat von der Leyen nach China "mitgenommen", um Einigkeit zu demonstrieren. Das Resultat war ein französischer Staatsbesuch mit einem Nebenschauplatz EU. Europa darf niemanden, auch nicht Chinas Präsidenten Xi Jinping, die Möglichkeit bieten, mit dem Protokoll den Stellenwert der europäischen Politik nach Belieben darzustellen.

Erstaunliche Einigkeit

Es stimmt, dass Europa seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine erstaunliche Einigkeit gezeigt hat. Aber das genügt nicht, um Europa eine stärkere Position in der Geopolitik zu geben. Dazu muss Europa als stärkerer Souverän dargestellt werden können und nicht als Verwaltungsholding für wirtschaftliche Angelegenheiten, die dann bei Staatsbesuchen auch als solche behandelt werden.

Wenn Macron die Eigenständigkeit Europas betont, interpretiert man das in China als ein Abwenden von der amerikanischen Geopolitik. Wenn von der Leyen betont, dass Europa geopolitische Positionen der USA unterstützt, wird das von China als Vasallentum der EU gedeutet. Europas Souveränität und Unabhängigkeit hängt nicht nur von seiner Eigenständigkeit in wirtschaftliche Angelegenheiten mit China ab, sondern auch von der Kraft, mit der es seine Beziehung zu Russland eigenständig gestalten kann. Die Tatsache, dass Europa fast dreimal so viel für seine Verteidigung aufwendet wie Russland, aber keinen seiner Staaten ohne Unterstützung der Amerikaner verteidigen kann, ist eine große Schwäche, welche die geopolitische Kraft Europas schwer beeinträchtigt.

Wäre Europa in der Lage, seine Grenzen eigenständig zu verteidigen, könnten weder China noch sonst jemand der EU vorwerfen, dass sie Positionen der USA aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses unterstützt. Wir täten es wenn, dann freiwillig und aus Überzeugung.

Längst verloren

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine behandeln die EU und viele Mitgliedstaaten die Ukraine als Teil der europäischen Völkergemeinschaft, wir beliefern sie mit Waffen und planen ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren. Aber ohne die Waffenlieferungen der USA wäre die Ukraine mit Sicherheit schon längst verloren. Man hätte ja auch die Entscheidung treffen können, dass die Ukraine kein Teil Europas ist, dann hätte man sich wahrscheinlich viele Tote erspart, aber die Ukraine wäre heute bereits gegen ihren Willen ein Teil Russlands. Und dann Belarus und die Republik Moldau.

Aber wenn Russland Belarus und Moldau einnimmt, hat es zu Europa eine durchgehende Nato-Grenze. Das will Russland ausdrücklich nicht, also beginnen wir dann so um 2050 herum darüber zu verhandeln, dass vom Baltikum bis Rumänien neutrale Zonen eingerichtet werden.

Unabhängig von dieser grauenvollen und hoffentlich unrealistischen Zukunftsvision muss Europa aber akzeptieren, dass eine Nato, die zu 70 Prozent von den USA finanziert wird, zwar ein wirksames und starkes Schutzschild für seine Mitgliedsstaaten und damit für einen Großteil Europas darstellt, aber keinen Beitrag zur europäischen Souveränität und Unabhängigkeit leistet. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Nato schon im Jahr 2017 als obsolet bezeichnet. Vergangene Woche sagte ein US-Senator auf Macrons Ausführungen: Wenn Europa unsere Taiwan-Politik nicht verfolgt, sollten wir es mit der Ukraine alleine lassen. Europa ist einer der wohlhabendsten und stärksten Kontinente der Welt. Haben wir es wirklich notwendig, dass unser Sicherheitsempfinden von den Launen der amerikanischen Politik abhängig ist?

Ich hoffe sehr, dass Europa und Amerika viele Jahrzehnte in Freundschaft für eine freie und demokratische Welt eintreten werden.

Konsequenter agieren

Europa aber kann und muss seinen Weg alleine gehen. Nur wenn es wesentlich konsequenter agiert, als es das jetzt tut, und die Nationalstaaten endlich akzeptieren, dass eine starke europäische Verteidigungs-, Kommunikations- und Datenunion ihre nationale Eigenständigkeit in keiner Weise unterminiert, sondern sie ganz im Gegenteil stärkt, kann es funktionieren. Dann wird auch Russland seinen Kurs dramatisch ändern müssen, um mit uns in Zukunft wieder friedlich nebeneinander leben zu können. Das wäre für uns und die ganze Welt die beste Lösung. (Andreas Treichl, 19.4.2023)