Die Politik muss die Zeichen der Zeit erkennen und mit an der Qualität der Arbeitsbedingungen drehen, sagt die Soziologin Claudia Sorger in ihrem Gastkommentar.

Warum an alten Arbeitszeitmodellen festhalten? Im Film "Safety Last!" hängt Harold Lloyd in luftigen Höhen an einem Uhrzeiger.
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Die aktuelle Debatte über die Arbeitszeitverkürzung ist komplexer, als sie auf den ersten Blick vermuten lässt. Sie zeigt die vielen Widersprüche auf, wie die Arbeitswelt in Österreich gestaltet ist und wird. Aber sie hat auch das Potenzial, Arbeitszeit als einen wichtigen Faktor für Arbeits- und Lebensqualität zu begreifen, die die veränderten gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Ansprüche berücksichtigt.

"Jederzeit wurde und wird die Normalarbeitszeit überschritten."

Dabei ist die Debatte um die Regelung der Arbeitszeit so alt wie die Industrialisierung selbst. Im Zuge deren wurde versucht, Gewinnsteigerungen mittels der Verlängerung der absoluten Betriebs- und Arbeitszeit zu erzielen. Die sogenannte Normalarbeitszeit, ob als Arbeitstag von zwölf, zehn oder acht Stunden definiert, stimmte zu keiner Zeit mit der normalerweise geleisteten Arbeitszeit der Mehrheit der Beschäftigten überein. Jederzeit wurde und wird die Normalarbeitszeit von einem großen Teil der Beschäftigten überschritten, durch meist bezahlte, aber auch unbezahlte Überstunden.

"Der 'klassische' Achtstundentag bleibt einer Minderheit vorbehalten."

Zwar ist die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten in Österreich seit dem Jahr 2008 um etwa eine Stunde pro Woche gesunken, aber Männer arbeiten laut aktuellen Daten der Statistik Austria wöchentlich immer noch durchschnittlich 42,3 Stunden und Frauen 41 Stunden. Damit liegt die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten in Österreich im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch. Auch durch den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung bleibt der "klassische" Achtstundentag einer Minderheit vorbehalten. Obwohl die tatsächliche Arbeitszeit von immer mehr Beschäftigten, und insbesondere von Frauen, kaum der Normalarbeitszeit entspricht, bleibt sie trotzdem der Bezugspunkt für die Lohnpolitik und die sozialen Sicherungssysteme.

Eindimensionale Sicht

Politik, die für Vollzeit und gegen Arbeitszeitverkürzung argumentiert, tut dies eindimensional aus der Sicht eines Unternehmens. Einzelne Unternehmen haben ein Interesse an Beschäftigten, die möglichst flexibel und lange einsetzbar sind, aber Beschäftigte haben auch andere Verpflichtungen wie die Betreuung von Kindern oder Angehörigen, gesundheitliche Einschränkungen oder andere Interessen neben der Erwerbsarbeit – auch das soll vorkommen.

Der aktuelle Fachkräftemangel schärft gezwungenermaßen das Bewusstsein dafür, dass sich Unternehmen umgekehrt den Bedürfnissen der Beschäftigten anpassen müssen. Gerade in Branchen wie dem Gesundheits- und Sozialbereich sollten Rahmenbedingungen verändert werden, damit mehr Menschen in diesen Berufen bis zum Pensionsantrittsalter arbeiten können und wollen. Die Arbeitszeit ist neben dem Einkommen ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt.

Falsche Prioritäten

In der Debatte tritt auch ein Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Vollzeitarbeit und der gleichzeitigen Förderung von Modellen, die es Frauen ermöglichen, möglichst lange nach der Geburt eines Kindes zu Hause zu bleiben, zutage. So sieht etwa das Arbeitsübereinkommen der Landesregierung in Niederösterreich vor, dass eine Arbeitsgruppe "zur Erarbeitung einer finanziellen Aufwertung für die Betreuung im Familienverband" eingesetzt werden soll.

Österreich wendet im Vergleich zu anderen Ländern einen geringen Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an Realtransfers für Kinderbetreuungseinrichtungen auf, und in vielen Regionen fehlen Kinderbetreuungsplätze, vor allem ganztags; demgegenüber stehen überdurchschnittliche Ausgaben an direkten Geldleistungen und Steuererleichterungen für Familien. Auch der seit 2019 bestehende Familienbonus Plus fördert Familien, ohne die realen Kosten für außerhäusliche Kinderbetreuung zu berücksichtigen. Zielführender wäre es, dieses Budget direkt in den Ausbau von qualitätsvollen Kinderbetreuungseinrichtungen zu investieren.

Bedarf erheben

Wie Berechnungen des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) zeigen, steigt der Anteil älterer Arbeitskräfte (55 Jahre und älter) bis zum Jahr 2040 um rund 221.000, während im Haupterwerbsalter (25 bis 54 Jahre) ein Rückgang zu erwarten ist. Parallel dazu steigt auch die Zahl der Erwerbspersonen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Gerade für viele Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder mit Behinderungen sind kürzere Arbeitszeiten eine Möglichkeit, erwerbstätig zu bleiben oder zu werden. Auch deshalb ist ein Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt nötig, in der eine Verkürzung der Normalarbeit ein wichtiges Element darstellt.

Was uns nicht weiterbringt, sind eine überholte Arbeitszeitdoktrin und Debatten, die sich wie aus vergangenen Jahrhunderten anhören, und darauf abzielen, dass Beschäftigte mehr Stunden arbeiten und damit Arbeit weniger attraktiv machen. Angesichts des Arbeitskräftemangels und der veränderten gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Ansprüche sind Konzepte gefragt, wie Arbeit anders verteilt und neue Fachkräfte gewonnen werden können. Dazu wäre es wichtig, den unterschiedlichen Bedarf von verschiedenen Berufsgruppen, von Menschen mit Betreuungspflichten oder von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen zu erkennen. Ziel der Politik muss es sein, nicht nur Partikularinteressen zu fördern. (Claudia Sorger, 22.4.2023)