Der deutsch-französische Motor droht auszufallen, sagt Joschka Fischer. "Allez, les deux!" ruft der ehemalige Außenminister in seinem Gastkommentar nun Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz zu.

Seit dem Februar 2022 und mit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine ist die europäische Welt eine radikal andere geworden. EU und Nato reagierten in großer Geschlossenheit; all die alten Konflikte innerhalb dieser Organisationen schienen einer anderen Zeit anzugehören und quasi über Nacht verschwunden.

Allein in der EU schien sich unter der Oberfläche des großen Einvernehmens eine Gegenströmung breitzumachen: Die beiden größten und wirtschaftlich wichtigsten Mitgliedsstaaten, Deutschland und Frankreich, verstanden sich zunehmend weniger. Zumindest pfeifen diese Tatsache in Paris und Berlin die Spatzen von den Dächern.

Macron, Scholz – wenige Gemeinsamkeiten in geopolitisch schwierigen Zeiten?
Foto: Reuters / Benoit Tessier

Regelmäßig stattfindende Regierungskonsultationen wurden abgesagt. Nach dem gemeinsamen Besuch von französischem Staatspräsidenten und deutschem Bundeskanzler in Kiew kam es zu keiner gemeinsamen Reise nach Peking, die Europas Position zweifellos gestärkt hätte. Stattdessen wurde die zukünftige China-Politik der Europäer aufgrund eines bestenfalls mehr als unglücklichen Interviews von Präsident Macron zu einem weiteren Spaltpilz in den beiderseitigen und den transatlantischen Beziehungen mit den USA, auf deren Sicherheitsgarantie Europa angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine mehr denn je angewiesen ist.

Spaltpilz China

Der Ukrainekrieg stellt aber zugleich eine globalstrategische Herausforderung dar, denn China ist dabei, eine neue "chinesische" Weltordnung zu errichten. Es ist dabei, Russland dauerhaft und fest an sich zu binden, und setzt auf "Eurasien" als alternatives Ordnungsmodell zum Transatlantismus auf dem europäischen Kontinent. Ist das wirklich der Moment, um die Beziehungen zwischen Europa und den USA zu lockern? Ganz offensichtlich nicht, vielmehr ist das genaue Gegenteil in dieser Zeit erforderlich.

An der Seine fragt man sich andererseits, wie der neue Bundeskanzler Scholz eigentlich die deutsch-französischen Beziehungen gestalten will, wie viel Wert er darauf noch legt angesichts des offiziellen Schweigens von Berlin. Und was will Scholz mit Europa, und vor allem: Welches Europa will er?

Dringender Erklärungsbedarf

Gewiss, der deutsche Bundeskanzler gilt auch in der Innenpolitik nicht gerade als ein begnadeter Kommunikator und Stratege – mit der einen großen Ausnahme seiner Rede zur "Zeitenwende" im Februar letzten Jahres, wenige Tage nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. Aber warum bis heute ausgerechnet die deutsch-französischen Beziehungen, das Herzstück der EU, und die Vorstellung der neuen Bundesregierung und des Bundeskanzlers zur Zukunft der EU im Unklaren bleiben, bedarf in der Tat dringend der Erklärung durch den Kanzler.

Deutschland und Frankreich können sich gerade angesichts des Krieges in der Ukraine und der russischen Bedrohung Europas wie auch angesichts der globalstrategischen Herausforderung durch die Eurasienstrategie von China und Russland eine interne Entfremdung nicht erlauben. Diese hieße eine Schwächung Europas, aber die Lage erfordert das genaue Gegenteil, nämlich eine intensivierte deutsch-französische Zusammenarbeit.

"Europäischen Fortschritt gibt es nur, wenn diese beiden größten Nationen und Volkswirtschaften gemeinsam in eine Richtung wollen."

Dies Unterfangen wird sich alles andere als einfach erweisen angesichts zahlreicher Interessen- und Auffassungsunterschiede, wie etwa beim Verhältnis zur Nato und den USA, der Energiepolitik (Atomenergie oder Erneuerbare), der Zukunft der europäischen Raketentechnologie und der Zukunft einer Europäisierung der gemeinsamen Rüstungsindustrie und der Konkretisierung der zukünftigen europäischen Verteidigungsfähigkeit (wie viel oder wie wenig Nato wird dabei dazugehören müssen?). Aber einfach war das deutsch-französische Verhältnis eigentlich nie; dazu sind sich diese beiden Nachbarn zu ähnlich und zu unterschiedlich zugleich.

"Ob sich Staatspräsident und Bundeskanzler sympathisch finden oder aber auf die Nerven gehen, ist dabei nachrangig."

Seit Anbeginn der EU galt: Europäischen Fortschritt gibt es nur, wenn diese beiden größten Nationen und Volkswirtschaften gemeinsam in eine Richtung wollen. Kein Mitgliedstaat verfügt in der EU allein über genügend Gestaltungskraft, auch die beiden größten nicht. Aber Deutschland und Frankreich verfügen allein selbst in der größeren Union noch über ausreichend Verhinderungskraft, um jeden Fortschritt blockieren zu können. Um die EU also den neuen geo- und sicherheitspolitischen Bedingungen auf dem europäischen Kontinent anzupassen, wird es einer gemeinsamen deutsch-französischen Vision bedürfen. Und exakt dazu wird es Verständnis für den jeweils anderen und, wie immer in der Vergangenheit auch, sehr viel an Kompromissbereitschaft bedürfen.

Ob sich Staatspräsident und Bundeskanzler sympathisch finden oder aber auf die Nerven gehen, ist dabei nachrangig, denn für beide Nationen lautet die Raison d'Être Europa, alternativlos. Der Brexit hat zudem gezeigt, dass es kein Zurück ins 19. Jahrhundert der europäischen Nationalstaaten gibt, "global Britain" hat sich als blanke Illusion erwiesen. Und Wladimir Putins Krieg und militärische Bedrohung von Europas Freiheit demonstrieren auf brutale Weise die Notwendigkeit der EU. Auch die globale Neuordnung in unseren Tagen zeigt, dass die europäischen Nationalstaaten zu klein für die Welt des 21. Jahrhunderts geworden sind. Gemeinsam in Frieden, Freiheit und Wohlstand selbstbestimmt oder getrennt und in Unfreiheit fremdbestimmt lautet die europäische Formel.

"Europa braucht einen funktionierenden deutsch-französischen Motor und kann sich selbst dessen temporären Ausfall nicht leisten."

Deutschland und Frankreich bleiben unverzichtbar füreinander und für Europa. Die geopolitische Lage Europas bleibt kompliziert und prekär, wirtschaftlich sind die Aussichten Europas alles andere als glänzend, technologisch wird es großer Anstrengungen bedürfen, um in den kommenden Jahren durch die beiden Supermächte unserer Zeit, die USA und China, nicht abgehängt zu werden. Was also soll die anhaltende deutsch-französische Entfremdung? Bestenfalls wird sie zu nichts anderem führen als unnötigem Zeitverlust, schlimmstenfalls aber in eine europäische Katastrophe, die keine verantwortliche Politik ernsthaft wollen kann. Europa braucht einen funktionierenden deutsch-französischen Motor und kann sich selbst dessen temporären Ausfall nicht leisten. Also: "Allez, les deux!" (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 4.5.2023)