Die Politikwissenschafterin Lore Hayek argumentiert in ihrem Gastkommentar, warum die Lust auf Neuwahlen in Österreich derzeit nicht groß ist. 

Das "Neuwahlgespenst" "geistert" im Sprech der Journalistinnen und Journalisten fast immer herum. Kaum hat eine Legislaturperiode begonnen, finden sich schon Gründe, warum diese vorzeitig wieder zu beenden sei. Aber wer hätte denn in Österreich aktuell wirklich Interesse an vorgezogenen Nationalratswahlen?

Die Regierungsparteien nicht

ÖVP und Grüne sind – nach anfänglichen Umfrage-Höhenflügen zu Beginn der Pandemie – beide eher wieder am anderen Ende ihrer Träume angelangt. Die ÖVP hat mit der Chat-Affäre, dem Kanzlerwechsel, dem Korruptionsuntersuchungsausschuss und dem Karmasin-Verfahren, um nur die wichtigsten Stolpersteine zu nennen, in den letzten Jahren wirklich nicht viel für ihre Wählerinnen- und Wählerbasis getan. Und dennoch schaffen es die Grünen nicht, sich als Juniorpartner in der Regierung mit ihren zentralen Klima- und Umweltschutzprojekten durchzusetzen. Man versucht, die großen Projekte aus dem Koalitionsabkommen noch abzuarbeiten – die angekündigte Blockade der SPÖ für Zweidrittelmaterien macht das allerdings nicht leichter.

Mit der Krise der SPÖ hat sich bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern die Neuwahlfrage gestellt. Zu Recht? Und wer würde von vorgezogenen Nationalratswahlen überhaupt profitieren?
APA/ROLAND SCHLAGER

Beide Regierungsparteien liegen in Umfragen derzeit knapp ein Drittel unter ihrem Ergebnis der Nationalratswahl 2019. Neben dem Machtverlust und dem Ende der schwarz-grünen Regierungszusammenarbeit würde dies – in tatsächliche Wählerinnen- und Wählerstimmen umgerechnet – auch massive finanzielle Einbußen bedeuten: Die Grünen erhalten 2023 rund elf Millionen Euro Parteienförderung (Klub, Partei und Akademie zusammengerechnet), die ÖVP rund 24 Millionen. Ein Jahr früher zu wählen könnte die ÖVP also acht Millionen Euro kosten – das ist mehr, als eine Partei laut Parteiengesetz überhaupt für einen Wahlkampf ausgeben dürfte.

Die SPÖ ganz sicher nicht

Von der Giraffe bis zur verlorenen Stimme und dem vertauschten Parteitagsergebnis: Einen Lauf hat die Sozialdemokratie wirklich nicht. Hätte Andreas Babler regulär am Parteitag den SPÖ-Vorsitz gewonnen, hätte er wohl einiges an "Momentum" mitnehmen können. So braucht es aber neben der Versöhnung der zwei bis drei Lager innerhalb der Partei auch noch ein Wundenlecken rund um die Parteitagsgeschehnisse. Hier hilft schon sprichwörtlich die Zeit. Ganz abgesehen davon, dass die SPÖ personell, inhaltlich und strukturell weit davon entfernt ist, für einen Wahlkampf gut aufgestellt zu sein.

Nicht einmal die FPÖ

Parteichef Herbert Kickl wird jetzt erst einmal schauen wollen, wie sich Andreas Babler positioniert. Fischt der wirklich nur im linken Teich und platziert die SPÖ auf jenem Terrain, auf dem sich kurzzeitig ein Fenster für die KPÖ aufgetan hätte? Oder ist Bablers hemdsärmelige Volksfestrhetorik auch für freiheitliche Wählerinnen und Wähler attraktiv, und muss sich die FPÖ darauf erst einstellen? Dazu kommt, dass fast niemand mit der FPÖ koalieren will, und schon gar niemand will Kickl zum Bundeskanzler machen. Was nützt der FPÖ Platz eins, wenn man dann doch wieder nur erste Reihe fußfrei zuschauen kann.

Und ganz ehrlich: Wir alle doch auch nicht

So unübersichtlich wie im Moment war die österreichische Parteienlandschaft schon lange nicht mehr. Aggregierte Umfragen in Politicos Poll of Polls räumen derzeit sieben Parteien Chancen auf den Einzug in den Nationalrat ein. KPÖ und Bierpartei wabern hier allerdings an der Vier-Prozent-Marke – und das macht in der Mandatsverteilung einen großen Unterschied: Schaffen es die beiden Parteien in den Nationalrat, so wäre dieser zwischen "linkem" und "rechtem" Lager beinahe ausgeglichen (wobei die Neos nach der Wahl Bablers wohl nicht automatisch als Partner in einer Ampelkoalition angenommen werden dürfen). Wenn nicht, dann hätte Schwarz-Blau eine komfortable Mehrheit. Das sind gar viele Unbekannte, um – von welcher Seite auch immer – strategisch durchdacht eine vorzeitige Wahl zu initiieren.

Und überhaupt: Weniger als 50 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher wollen aktuell Neuwahlen. Nach Ibiza, Pandemie, Ukrainekrieg, Gasknappheit, Teuerung, Innenpolitik-Dauerdrama: Hat wirklich irgendwer Lust auf einen Wahlkampfsommer? Ob Politik, Medien, Wählerschaft – eine große Neuwahleuphorie poppt bei niemandem auf. Atmen wir einmal durch, lassen wir den Staub sich legen, essen wir ein Eis – die nächste Aufregung kommt bestimmt. Wir leben immerhin in Österreich. (Lore Hayek, 11.6.2023)