Mark Leonard vom Thinktank European Council on Foreign Relations schreibt in seinem Gastkommentar über das sinkende westliche Engagement im Nahen Osten.

Für arabische Diplomaten war der Mai ein arbeitsreicher Monat. Zwölf Jahre nach dem Ausschluss Syriens aus der Arabischen Liga wurde der syrische Präsident Bashar al-Assad wieder offiziell in ihren Reihen willkommen geheißen. Einiges deutet darauf hin, dass der ewige Krieg im Jemen endlich enden könnte und sich eine Versöhnung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien anbahnt. Ägypten hat einen Waffenstillstand zwischen Israel und dem Islamischen Jihad vermittelt, und in den Verhandlungen über ein Ende des Bürgerkriegs im Sudan hat Saudi-Arabien eine Schlüsselrolle übernommen.

Assad Syrien
Konnte wieder in die Arabische Liga zurück: Syriens Machthaber Bashar al-Assad.
Foto: Reuters / Firas Makdesi

Bemerkenswert an den jüngsten Entwicklungen ist, dass der Westen daran so gut wie nicht beteiligt ist. Obgleich das westliche Engagement im Nahen Osten nicht immer gleich stark war, wurden die meisten diplomatischen Durchbrüche in der Region seit Ende des Kalten Krieges auf Druck der USA und ihrer europäischen Verbündeten erzielt. Dies gilt für den Frieden zwischen Israel und Jordanien ebenso wie für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Golfstaaten und das Atomabkommen mit dem Iran aus dem Jahr 2015. Weitere Aktionen des Westens waren der Einmarsch in den Irak im Jahr 2003, die militärische Interventionen in Libyen 2011, die Unterstützung von Rebellengruppen gegen Assad in Syrien und die Vertreibung des "Islamischen Staates" aus seiner Basis in Syrien und dem Irak. Auch die Luftkampagne Saudi-Arabiens im Jemen wurde von den USA unterstützt. Inzwischen sind von all diesen Einsätzen nur noch 2.500 US-Soldaten im Irak und 900 in Syrien übrig.

Der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten ist Teil einer bewussten strategischen Neuausrichtung auf die zunehmende Rivalität mit China. Wie mir ein früherer US-Vertreter gesagt hat, ist dies nicht einfach eine Rückbesinnung auf die amerikanische Position vor den Anschlägen vom 11. September 2001. Die USA wollen vielmehr zu ihrer Taktik aus Zeiten des Kalten Krieges zurückkehren, als die USA ihre militärische Präsenz auf ein Minimum beschränkten und die Wahrung des Friedens ihren Verbündeten in der Region überließen. US-Präsident Joe Biden ist stolz darauf, dass es seiner Regierung bisher gelungen ist, den Morast Naher Osten zu umgehen, in dem seine unmittelbaren Amtsvorgänger Barack Obama und Donald Trump bei ihrer Wende in Richtung Asien noch stecken geblieben waren.

Neue Realität

Man kann auf die neue Realität im Nahen Osten auf zwei Arten reagieren. Entweder man beklagt die Kluft zwischen den hehren Zielen des Westens und der Realität vor Ort. Obwohl die USA und die Europäische Union auf dem Papier immer noch die Zweistaatenlösung befürworten, haben sich Israelis und Palästinenser inzwischen von ihr verabschiedet. Die jüdische Mehrheitsgesellschaft in Israel wird zunehmend nationalistisch und ultraorthodox, und die Mehrheit der Palästinenser verlässt sich lieber auf den bewaffneten Widerstand als auf Präsident Mahmoud Abbas' Palästinensische Autonomiebehörde.

Gleichzeitig warnt der Westen zwar dauernd, wie wichtiges es sei, das schnell fortschreitende iranische Atomprogramm auf diplomatischem Wege zu beschränken, lässt seinen Worten aber kaum Taten folgen. Grund für die US-amerikanische und europäische Passivität ist die brutale Unterdrückung der Massenproteste, die letzten September im ganzen Land ausgebrochen waren, durch das Regime im Iran und dessen militärische Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine. Dadurch bleibt Irans Atomprogramm eine tickende Zeitbombe. Erst dieses Frühjahr hat die Internationale Atomenergieorganisation im Iran Uranpartikel mit einem waffenfähigen Reinheitsgrad von 83,7 Prozent entdeckt. Damit hat sich die Durchbruchsfrist des Iran, also die Zeit, die das Land brauchen würde, um genug spaltbares Material für eine Atomwaffe herzustellen, von zwölf Monaten während der Umsetzung des Atomabkommens auf ungefähr zwölf Tage verkürzt.

"Trotz der anfänglichen Sorge, der Rückzug der USA werde die Region in Chaos und Unordnung stürzen, sehen viele im Nahen Osten die Einmischungspolitik des Westens inzwischen selbst als destabilisierenden Faktor."

Andere Länder beeilen sich, das durch den Rückzug des Westens aus der Region entstandene Vakuum zu füllen. Als kurz die Gefahr bestand, dass sich ein Austausch von Raketen zwischen Israel und dem Islamischen Jihad in Gaza zu einem größeren Konflikt ausweitet, trat Ägypten als Vermittler auf und leitete die Verhandlungen, die schließlich zu einem Ende der Gewalt führten. Und nicht der Angriff einer US-amerikanischen Drohne, sondern türkische Spezialkräfte töteten Ende April den Anführer des "Islamischen Staates" Abu al-Husain al-Husaini al-Kuraischi.

Eine Form der Ordnung

Aber auch wenn viele im Westen diese ernüchternden Entwicklungen beklagen, kann man die gerade entstehende postamerikanische Ordnung auch ganz anders interpretieren. Trotz der anfänglichen Sorge, der Rückzug der USA werde die Region in Chaos und Unordnung stürzen, sehen viele im Nahen Osten die Einmischungspolitik des Westens inzwischen selbst als destabilisierenden Faktor und verweisen dabei gerne auf den übereilten Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. Die neue Ordnung, die von regionalen Akteuren und fremden Mächten wie Russland und China und damit vorwiegend von autokratischen Regimen gestützt wird, ist für den Westen vielleicht nicht die bevorzugte Lösung, aber dennoch eine Form von Ordnung.

Der Westen hätte sich vermutlich ein anderes Ergebnis gewünscht. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass der Nahe Osten friedlicher geworden ist, wie die Deeskalation des Konflikts im Jemen, die (von China vermittelte) Entspannung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und die neue Reife des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zeigen. Auch dass die regionalen Führungskräfte inzwischen immer öfter in Krisen wie dem beginnenden Bürgerkrieg im Sudan Verantwortung übernehmen, ist eine positive Entwicklung. Natürlich lässt sich die gerade entstehende Ordnung als autoritärer Frieden beschreiben, und die Länder des Nahen Ostens müssen noch viele Probleme lösen. Trotzdem konzentriert sich die Region heute auf wirtschaftliche Integration und Entwicklung, während für die westliche Politik immer andere Probleme wichtiger zu sein schienen.

Multipolare Welt

Vielleicht erlebt der Nahe Osten gerade nur eine kurze Verschnaufpause, die bald wieder von neuer Gewalt beendet wird. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass uns die Region einen ersten Blick in die multipolare Zukunft ermöglicht. Wie mir ein chinesischer Beobachter des Nahen Ostens anvertraut hat, sieht sein Land die Region inzwischen als "Labor für eine postamerikanische Welt". Je weiter sich die USA zurückziehen, umso stärker werden regionale Mächte und umso mehr Einfluss gewinnen Länder wie Indien, die Türkei, Russland und China.

Wie Julien Barnes-Dacey und Hugh Lovatt bereits anmerkten, muss der Westen in einer multipolaren Welt entweder umfangreiche Ressourcen einsetzen, um den Gang der Welt zu beeinflussen, oder lernen, sich an die Prioritäten anderer anzupassen. Letzteres dürfte nicht immer zum vom Westen gewünschten Ergebnis führen, wäre vielleicht aber auch gar nicht so schlimm. (Mark Leonard, Copyright: Project Syndicate, 13.6.2023)