Verteilung von Dunkler Materie im Kosmos
Dieses zusammengesetzte Bild zeigt die Verteilung von Dunkler Materie, Galaxien und intergalaktischem Gas im Zentrum des verschmelzenden Galaxienclusters Abell 520.
NASA, ESA, CFHT, CXO, M.J. Jee (University of California, Davis), and A. Mahdavi (San Francisco State University)

Die Kataloge der Astronomie sind prall gefüllt: In den Jahrtausenden, in denen die Menschheit den Nachthimmel studiert, hat sie Abermilliarden Sterne und zigtausend Gasnebel beschrieben und jenseits unserer Milchstraße Millionen von Galaxien beobachtet – die Korrektur nach oben dank des James-Webb-Weltraumteleskops noch nicht inbegriffen. Auch die Liste der bekannten Exoplaneten wächst beständig, sie zählt bereits über fünftausend Exemplare, und selbst Schwarze Löcher haben wir schon einige entdeckt.

Man könnte also glauben, dass die Menschheit gut über ihr Universum Bescheid weiß. Doch die unglaubliche Fülle an faszinierenden Objekten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Astronomie die Wissenschaft der Kränkungen ist: Es war zunächst der Astronom Kopernikus, der die Erde aus dem Zentrum des Kosmos verstieß, und es ist die Astronomie, die, wenn es gelingt, den Beweis für außerirdisches Leben erbringen wird und so die Einzigartigkeit unserer Existenz infrage stellt.

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Astronomische Messungen

Eine ebenso fundamentale Kränkung erfuhr unser Weltbild, als Dunkle Materie entdeckt wurde: Wie astronomische Messungen zeigten, muss es mehr Masse im Universum geben, als wir sehen können. Diese dunkle, weil nicht mit Licht interagierende Materie sogt dafür, dass Strukturen wie unsere Milchstraße stabil sind – ohne sie sind das Sonnensystem und die Erde nicht erklärbar. Doch heute, viele Jahrzehnte und Experimente später, kennen wir diese Substanz, die unser Dasein ermöglicht, immer noch nicht.

Damit nicht genug: Der Astronom Edwin Hubble warf Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Beobachtung des expandierenden Weltalls nicht nur das Paradigma des statischen Universums um, sondern stieß auch Forschungen an, die Ende der 1990er-Jahre zur Entdeckung der kosmischen Beschleunigung führten: Das All dehnt sich immer schneller aus, obwohl die Masse in ihm eigentlich das Gegenteil bewirken sollte. Um die Schwerkraft zu überwinden, braucht es Dunkle Energie. Doch was genau das Universum wie einen Kuchen aufgehen lässt, wissen wir nicht.

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Unbekanntes Universum

Mit dieser Entdeckung war der Skandal perfekt, denn wie Kosmologinnen und Kosmologen bald berechneten, machen der Inhalt aller astronomischen Listen und Kataloge und all die noch unbekannten Sterne, Nebel und Galaxien nur fünf Prozent der Masse im Universum aus. Rund 27 Prozent entfallen dagegen auf Dunkle Materie, stolze 68 Prozent auf Dunkle Energie. Die Kränkung in einem Wort: Wir kennen den Großteil des Universums nicht.

Diese Tatsache scheint zunächst zu ungeheuerlich, um wahr zu sein. Doch an den Zahlen ist nicht zu rütteln: "Während die Kosmologie vor einem halben Jahrhundert noch relativ spekulativ war, haben wir mittlerweile eine explosionsartige Flut an Daten", sagt Josef Pradler, Teilchenphysiker an der Univer­sität Wien und am Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Die genauen Prozentzahlen kommen primär aus der Beobachtung der kosmischen Hintergrundstrahlung."

Die rätselhafte Dunkle Materie steht im Fokus der Euclid-Mission, die am Wochenende startet.
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Dunkle Materie in der Ursuppe

Aus diesem schwachen Nachglühen des jungen, heißen Universums können Fachleute erstaunlich viel lernen, wie Pradler erläutert: "Die Hintergrundstrahlung ist etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall entstanden, als sich Protonen und Elektronen zu Wasserstoff verbunden haben. Erst dann konnten Photonen das All durchqueren – und Information zu uns tragen. Wir müssen aber Dunkle Materie in dieser Ursuppe hineinsetzen, um das Bild, das wir so bekommen, zu erklären."

Es sei ebenjene unbekannte Substanz gewesen, die Störungen im sonst homogenen Universum verursacht habe – und damit dichtere Punkte, an denen sich die normale Materie gravitativ ansammeln konnte, um schließlich Gebilde wie Galaxien und Galaxienhaufen zu bilden. Ohne Dunkle Materie wäre das All ein langweiliger Einheitsbrei geblieben.

Entwicklung des Universums
Die Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute.
NASA/CXC/M.Weiss

Auch über Dunkle Energie gibt die Hintergrundstrahlung Auskunft: "Wie die Strahlung heute verteilt ist, hängt von der Expansionsgeschichte des Universums ab: Aus der durchschnittlichen Größe der Strukturen kann man Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich das All in den letzten Jahrmilliarden ausgedehnt hat", erklärt Pradler.

Unser Unwissen können wir exakt vermessen, doch die ernüchternde Feststellung bleibt: Wir leben in einem uns weitestgehend fremden Weltall. Abfinden will sich mit dieser Tatsache aber niemand, und so verfolgen weltweit Fachleute verschiedenste Ansätze, um die weißen Flecken in der Landkarte der Kosmologie zu füllen – auf der theoretischen wie experimentellen Seite, mit Weltraumteleskopen und Teilchenbeschleunigern.

Neue Teilchen gesucht

Josef Pradler beteiligt sich an der Suche nach Dunkler Materie – und vermutet als Teilchenphysiker freilich unbekannte Partikel als des Rätsels Lösung. "Das große Problem besteht darin, dass wir nur die Verteilung der Dunklen Materie im All kennen", erklärt der Physiker, "doch was wir dabei messen, ist nur die Massendichte."

Offen bleibt also, wie schwer die einzelnen Teilchen der Dunklen Materie sind: Sind es viele leichte oder wenige schwere Partikel, die da unbeobachtet zwischen den Sternen liegen? "Zwischen den vorgeschlagenen Partikelmassen liegen dreißig Größenordnungen. Daher ist ein möglichst diverses experimentelles Programm so wichtig, um die verschiedenen Möglichkeiten abzudecken", sagt Pradler.

Doch wie würden die verschiedenen Detektortypen auf die unterschiedlichen Teilchenkandidaten anschlagen? Genau solchen Fragen widmet sich der theoretische Physiker: "Ich habe an Wimps gearbeitet, also sehr schweren Partikeln, aber auch an Axionen, die viel leichter als ein Wasserstoffatom wären. Dabei versuche ich, prototypische Teilchensignaturen vorherzusagen", sagt Pradler. Diese Vorarbeit ist von zentraler Bedeutung: Ohne eine Vorstellung davon, welche Spuren die verschiedenen Dunkle-Materie-Teilchen in den Datenbergen der Experimente hinterlassen würden, könnten wir die unterschiedlichen Modelle nicht unterscheiden.

Seltene Zusammenstöße

Stichwort Experimente: Da Dunkle Materie so ungern mit herkömmlicher Materie interagiert, ist die Suche nach den Teilchen äußerst schwierig. Zum Einsatz kommen dabei Teilchenbeschleuniger wie der Large Hadron Collider (LHC) am europäischen Kernforschungszentrum Cern, zu dessen Etat auch das österreichische Wissenschaftsministerium beiträgt. Dunkle-Materie-Partikel fielen beim LHC als fehlende Energie und Impuls in den Kollisionsexperimenten auf. Darüber hin­aus gibt es Detektoren, die nach seltenen Zusammenstößen zwischen herumschwirrender Dunkler Materie und Atomkernen Ausschau halten.

Teilchenbeschleuniger Cern
Auch mit dem Large Hadron Collider (LHC) des europäischen Kernforschungszentrums Cern wird nach Hinweisen zu Dunkler Materie gefahndet.
imago/Leemage

Auch das Institut für Hochenergiephysik ist an solchen Experimenten beteiligt: Cresst zum Beispiel liegt begraben unter dem italienischen Gran-Sasso-Gebirgsmassiv. "Bei diesem weltweit führenden Experiment kommen spezielle Kristalle zum Einsatz, die sich leicht erwärmen, wenn ein Dunkle-Materie-Teilchen in ihnen streut", erklärt Pradler. "Diesen winzigen Temperaturanstieg regis­trieren wir mithilfe supraleitender Detektoren. Zudem senden die Kristalle Licht aus, wenn sie ein Partikel trifft."

Während Cresst nach leichten Teilchenkandidaten sucht, fahnden ähnliche Instrumente dagegen nach Wimps – und sind bereits so sensitiv, dass, wenn sie nichts finden, die Luft für solche Modelle eher dünn wird. "Wir sind im Endgame angelangt", sagt Pradler, "aber auch von einer Nichtbeobachtung würden wir etwas lernen, und zwar, wie die Natur nicht realisiert ist."

Widerstand

Fachleute engen das Feld der möglichen Partikel immer mehr ein, doch angesichts der bisher ausbleibenden Entdeckungen regt sich Widerstand gegen die Teilchenhypothese insgesamt. Alternativen suchen Fachleute nicht im Mikrokosmos, sondern am ganz anderen Ende der Größenskala: Könnten Schwarze Löcher hinter Dunkler Materie stecken?

"Auch bei den Schwarzen Löchern ist der Massenspielraum groß", gibt Pradler zu bedenken. "Würde man versuchen, Dunkle Materie ausschließlich durch Schwarze Löcher mit einigen Sonnenmassen zu erklären, sollten wir bei den Gravitationswellenobservatorien deutlich höhere Verschmelzungsraten beobachten."

Und was ist mit leichteren Schwarzen Löchern? "Objekte von etwa einer Meteoritenmasse sind möglich", erklärt Pradler, "Doch schon etwas kleinere Schwarze Löcher wären längst durch Hawking-Strahlung verdampft und hätten dabei Gammastrahlen emittiert, die wir in der Intensität aber nicht sehen. Generell schränken unsere Beobachtungen die Möglichkeiten stark ein, wenn Löcher mit einer bestimmten Masse hinter der Dunklen Materie stecken sollen."

Gewagte These

Günther Hasinger, bis vor kurzem Wissenschaftsdirektor der europäischen Weltraumagentur Esa, zu deren Budget auch das österreichische Klimaministerium beiträgt, vertritt einen etwas anderen Ansatz: Der Astrophysiker schlägt vor, dass es verschieden große primordiale Schwarze Löcher sind, die ­gemeinsam die Dunkle Materie darstellen. Quantenfluktuationen unmittelbar nach dem Urknall könnten die nötige Massenbandbreite der Schwarzen Löcher erzeugt haben.

Ob sich Hasingers Konzept bewahrheitet, bleibt abzuwarten – zumindest bis die neue Generation der Gravitationswellenobservatorien in Betrieb geht. Diese Experimente werden empfindlich genug sein, um Verschmelzungen Schwarzer Löcher bis weit in die Vergangenheit des Alls hinein aufzuspüren und dabei einen großen Massenbereich abzudecken. Inzwischen blicken Pradler und die Dunkle-Materie-Community weiter auf Experimente wie den LHC oder Cresst, die nach den so flüchtigen Partikeln Ausschau halten.

So groß das Rätsel der Dunklen Materie sein mag, im Vergleich zur Dunklen Energie scheint es beinahe vernachlässigbar, trägt Letztere doch mehr als zweieinhalbmal so viel zur Energiebilanz des Universums bei. Dunkle Energie ist damit das mit Abstand größte Puzzlestück der Kosmologie.

Kosmisches Gaspedal

"Um die Erde ist der Raum ein wenig gekrümmt, und um Schwarze Löcher ist er sehr stark gekrümmt – aber auf großen Skalen ist das Universum ziemlich flach. Und wie sich zeigte, fehlt neben der normalen Materie und dem dunklen Zeug, das unsere Galaxien zusammenhält, noch Energie im All, die für die geringe Krümmung verantwortlich ist", erklärt Steven Bass, theoretischer Physiker an der Universität Krakau und am Kitzbüheler Zentrum für Physik.

Es war also die überraschende Eintönigkeit des Alls, die Fachleute auf Dunkle Energie aufmerksam werden ließ. Den direkten Nachweis brachten erst Beobachtungen entfernter Supernovae, wie Bass weiß: "Messungen der Helligkeit und der Rotverschiebung eines speziellen Typs von Sternenexplosion, der immer mit derselben Leuchtkraft hochgeht, ergaben, dass sich das All seit fünf Milliarden Jahren beschleunigt ausdehnt."

Doch was genau steigt dem Universum aufs Gaspedal? Könnte nicht auch die Stärke der Schwerkraft seit damals abnehmen? Dieser Vorgang würde zu einer Beschleunigung führen – ganz ohne Dunkle Energie. Doch dafür fanden Fachleute, die jüngst die Formen unzähliger Galaxien nach Anzeichen für eine schwächere Gravitation absuchten, keinerlei Anhaltspunkte.

Kleine Konstante

Ohnehin stünde eine Schwankung der Gravitation im Widerspruch zu Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, nach der Masse, oder Energie, den Raum verzerrt, was wir als Schwerkraft wahrnehmen. Und siehe da: In den Gleichungen, die diese Krümmung beschreiben, findet sich eine Größe, die bald ins Zentrum der Debatte um Dunkle Energie rückte: die kosmologische Konstante.

"Die kosmologische Konstante verhält sich wie die Energiedichte des Vakuums", erklärt Bass. "Nach dem Urknall war die Energiedichte der Materie extrem hoch, viel höher als die des Vakuums, und sorgte mit ihrer Schwerkraft für eine Verlangsamung der Expansion. Doch als sich das All ausdehnte, sank auch die Materieenergiedichte, bis sie unter die Vakuumenergiedichte fiel – die Beschleunigung gewann Oberhand."

Dass im leeren Raum Energie steckt, mag ungewöhnlich wirken, doch bei Physikerinnen und Physikern, die von der Quantenmechanik abgehärtet sind, sorgt derlei nicht mehr für Kopfzerbrechen. Das Problem liegt anderswo: Berücksichtigen Fachleute bekannte Effekte wie das Higgs-Potenzial oder die Nullpunktsschwingungen der Teilchenfelder, lässt sich die Größe der kosmologische Konstante nicht korrekt berechnen.

"Der gemessene Wert der Vakuumenergiedichte ist relativ klein und positiv", sagt Bass, "doch wenn Theoretiker versuchen, sie vorherzusagen, kommen sie auf eine Zahl, die über fünfzig Größenordnungen danebenliegt und das falsche Vorzeichen hat." Wenn Einsteins Konstante hinter Dunkler Energie stecken soll, braucht es für diese Diskrepanz eine stichhaltige Erklärung. Ein Team um Steven Bass hat nun eine solche vorgeschlagen. Um sie zu erklären, braucht man einen Teppich.

Ein Teppich voller Ameisen

Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass der Raum en gros beinahe flach ist oder, wie Physikerinnen und Physiker sagen würden: symmetrisch. Doch da Energie den Raum krümmt, verursacht die Vakuumenergiedichte selbst einen Bruch der Raumsymmetrie. Damit lässt sich die Frage nach der kosmologischen Kon­stan­te anders stellen: Warum sieht der leere Raum nicht stärker verzerrt aus?

"Betrachten wir einen Teppich aus einiger Entfernung, sieht er wie unser Raum einigermaßen glatt aus. Doch kommen wir näher, und in der Teilchenphysik bedeutet das: gehen wir zu immer höheren Energien, sehen wir plötzlich die Strukturen des Teppichs. Für Ameisen sind Teppiche äußerst raue, hügelige Landschaften", sagt Bass.

Dass die kosmologische Konstante so klein ist, liegt in diesem Bild daran, dass wir als Bewohner der Niedrigenergiewelt das eigentliche Gewebe der Wirklichkeit nur aus der Ferne betrachten: Es sind Effekte einer Physik der unerreichbar kleinen Skalen und hohen Energien, die für die Größe der kosmologischen Konstante verantwortlich sind.

Geänderte Spielregeln

Bei einer gewissen Energie, oder einem gewissen Abstand zum Teppich, ändern sich plötzlich die Spielregeln – Fachleute sprechen von Emergenz. Bass erklärt: "Die Situation ist ähnlich wie bei Quarks, die sich zusammenfinden, eine Art Phasenübergang durchlaufen und sich als Protonen oder Neutronen verhalten." Stimmt der Vorschlag des Physikers, wäre das Standardmodell der Teilchenphysik der emergente Grenzfall einer unbekannten Hochenergiewelt.

"Dieses Konzept sagt voraus, dass die Energie der kosmologischen Konstante etwa gleichauf mit der Masse von Neutrinos wäre – und dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind, sogenannte Majorana-Neutrinos", erklärt Bass. Damit lässt sich die Idee des Theoretikers überprüfen: "Solche Majorana-Neutrinos würden eine spezielle Art von Kernzerfall ermöglichen, nach dem verschiedene Experimente suchen."

Ob sich die kosmologische Konstante als Erklärung für Dunkle Energie bewährt, hängt aber nicht nur vom Erfolg des Emergenz-Ansatzes ab. Zusätzlich muss die Größe der Dunklen Energie zeitlich konstant sein. Eine mögliche Zeitabhängigkeit zu erforschen ist daher Teil des Esa-Mission Euclid, die demnächst startet. Dabei soll ein Satellit das dunkle Universum vermessen – und uns dabei helfen, Licht in die Rätsel zwischen Schwerkraft und Teilchenphysik zu bringen. (Dorian Schiffer, 1.7.2023)