Der Schriftsteller und Übersetzer Ondřej Cikán schreibt in seinem Gastkommentar über Russlands Versuche, in westlichen Staaten die Gesellschaft zu spalten.

Es ist bekannt, dass Russland mithilfe von Trollfarmen, Desinformation und der Unterstützung extremistischer Gruppen daran arbeitet, die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. Es stellt sich dabei sehr geschickt an, weil es auf der Klaviatur der "gesellschaftspolitischen" Themen sehr gut zu spielen vermag, egal ob sie Corona, den Klimaschutz, den Islam, Rassismus, die Zuwanderung, Dekolonialisierung oder das Gendern betreffen. Hauptsache, es werden Hass und extreme Haltungen bis zur Unversöhnlichkeit verstärkt und zusätzlich alles durch eine Fülle an widersprüchlichen Informationen und abstrusen Vergleichen relativiert.

Es ist genauso bekannt (CNN, Politico und andere haben berichtet), dass Russland mithilfe der sozialen Medien sowohl die Black-Lives-Matter-Bewegung als auch die Anhänger Donald Trumps (mit)radikalisiert hat, vom Brexit ganz zu schweigen. Es funktioniert erschreckend einfach: Mit einschlägigen gesellschaftskritischen Themen, die für die eine oder andere Gruppe jeweils besonders brennend sind, werden Follower gesammelt – und ab einem gewissen Zeitpunkt Narrative gestreut und verstärkt, die zu Wut und Empörung führen. Die Empörten sind dann freilich unsere Mitbürger, die einschlägige Parteien wählen und eigene Mittel finden, um ihre Empörung über was auch immer zum Ausdruck zu bringen. Gesellschaften, die sich langfristig nicht gerade durch Stabilität auszeichnen, sind besonders anfällig, weil bestehende Konflikte nur verstärkt werden müssen.

Ein Land im Ausnahmezustand: Rund 45.000 Polizistinnen und Polizisten waren in ganz Frankreich im Einsatz – auch mit gepanzerten Fahrzeugen.
EPA/Nicolas Serve

Wie sieht es nun in Frankreich aus, einige Tage nachdem der 17-jährige Nahel in einem Pariser Vorort von einem Polizisten erschossen worden ist? Tagsüber gibt es Demonstrationen, nachts wüste Plünderungen, brennende Autos und Gebäude. Die extreme Linke träumt von der langersehnten Revolution, die weniger extreme Linke prangert die Polizeigewalt an, lachende, gewaltbereite Jugendliche, großteils – aber nicht nur – afrikanischer oder muslimischer Abstammung, toben sich aus und normalisieren die Gewalt – während die extreme Rechte sich im Ausländerhass bestätigt sieht und nach einer starken Hand ruft, um die Sache mit den Zuwanderern ein für alle Mal zu lösen.

Rechtsradikale in weiteren europäischen Ländern stimmen in diesen Chor mit ein. Um außerdem noch den kolonialen Aspekt zu bedienen, präsentieren russophile Online-Kanäle für das Publikum im Globalen Süden die altbekannte Geschichte, dass man im rassistischen Westen farbige Menschen am laufenden Band exekutiere und Korane verbrenne, während Russland natürlich extrem tolerant sei.

Sowohl die gewalttätigen Plünderer als auch die empörten Linken als auch die aufgebrachten Rechten haben jeweils ein eigenes Narrativ parat, das sich im Gulasch der russischen Kanäle wiederfindet. Russland befeuert die einen genauso wie die anderen, stachelt sie zur Feindschaft an.

Erklärtes Ziel

Eine weitere Rolle spielt die Relativierung: In der Nacht von Freitag auf Samstag habe ich Twitter nach Hashtags wie #France durchsucht. Von einschlägigen Konten wird das Vorgehen der französischen Polizei einem friedlichen Moskau oder Budapest gegenübergestellt, um zu suggerieren, dass dort die Hand des starken Mannes alles unter Kontrolle habe. Zugleich werden Verhaftungen in Frankreich mit denen im Iran verglichen, um zu vermitteln, dass die Rechtsstaatlichkeit in diesen Ländern auf demselben Niveau sei. Ganz besonders widerlich sind Vergleiche der Gewalt in französischen Städten mit jener in der im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstörten Stadt Mariupol. Solche Vergleiche verharmlosen russische Kriegsverbrechen und schüren zugleich Angst.

Russlands große Hoffnung besteht darin, dass der Westen früher oder später zerbröselt und aufhört, die Ukraine zu unterstützen. Die Wiederherstellung der sowjetischen Machtsphäre ist Russlands erklärtes Ziel, das den Zerfall der Nato und der EU impliziert. Bei aller hybriden Kriegsführung Russlands gegen den Westen sollten aber folgende Dinge klar sein: Die gefährlichsten Feinde einer demokratischen Gesellschaft gehören ihr selbst an, auch wenn sie von außen gefüttert werden mögen. Die Ukraine, gegen die Russland einen echten, unmaskierten Krieg führt, ist demokratisch und zivilisiert geblieben. Das sollte Frankreich auch schaffen. (Ondřej Cikán, 4.7.2023)