Der Verfassungsgerichtshof verhandelt am Dienstag ab zehn Uhr in einer öffentlichen Sitzung, ob die obersten Entscheidungsgremien im ORF die Gesellschaft noch abbilden – und ob der Einfluss von Staat und Regierung dort zu weit geht. Vertreter des Kanzleramts und des Landes Burgenland, das den Prüfantrag stellte, beantworten einen Fragenkatalog des Verfassungsgerichts und stellen sich weiteren Fragen der Höchstrichter.

Es geht um Unabhängigkeit, Repräsentation der Gesellschaft in den Gremien, Auswahlkriterien und Kontrolle der Bestellung von ORF-Räten. Mit einer Entscheidung des Höchstgerichts ist am Dienstag nicht zu rechnen. Ein Überblick zu dem womöglich folgenschweren Verfahren vor dem Höchstgericht:

ORF-Zentrum mit Plakat
Ist das noch ein ORF "wie wir", wie der Rundfunk lange geworben hat? Die Höchstrichter prüfen, ob seine Entscheidungsgremien noch repräsentativ besetzt sind.
Harald Fidler

1. Worum es geht

Das Burgenland hat einen Prüfantrag gestellt, ob die 35 Mitglieder des im ORF entscheidenden Stiftungsrats und die 30 Publikumsräte ausreichend regierungsfern bestellt werden, wie es das Verfassungsgesetz über die Unabhängigkeit des Rundfunks verlangt. 30 Stiftungsräte entsenden Bundesregierung, Parteien, Bundesländer und der Publikumsrat des ORF. Der Stiftungsrat entscheidet über ORF-Führung, ORF-Budgets, Programmschemata und alle größeren unternehmerischen Fragen.

Im Publikumsrat, dem zweiten ORF-Gremium mit eher überschaubaren Kompetenzen, bestimmen der Bundeskanzler oder eine Medienministerin die Mehrheit von 17 Mitgliedern. Mit dieser Mehrheit entsendet der Publikumsrat sechs seiner Mitglieder in den entscheidenden Stiftungsrat.

2. Fragen vor dem Höchstgericht

Der Publikumsrat und die Bestellung der Mehrheit durch das Kanzleramt gilt wie berichtet als wahrscheinlicher Ansatzpunkt für den Verfassungsgerichtshof. Akademien der Parteien im Nationalrat entsenden je ein Mitglied, Kammern, Kirchen, Gewerkschaften und die Akademie der Wissenschaften acht direkt. Für die übrigen 17 Mandate machen laut Gesetz für gesellschaftliche Gruppen "repräsentative" Organisationen Besetzungsvorschläge an das Kanzleramt – von Bildung über Familien, Jugend, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung bis zu Organisationen für Volksgruppen, Mobilität und Touristik.

Das Verfassungsgericht steht nun bei der Prüfung vor Fragen wie: Sind diese im Gesetz angeführten Gruppen zeitgemäß, bildet der Bestellungsmodus die heutige Gesellschaft noch ab? Warum haben katholische und evangelische Kirche einen Fixplatz im Publikumsrat, nicht aber andere Religionsgemeinschaften? Gibt es Kriterien für die Auswahl von ORF-Räten, und wer kontrolliert eigentlich den Bestellungsprozess und ob diese Kriterien erfüllt werden?

Der renommierte Rundfunkrechtler Hans Peter Lehofer vermisste zuletzt bei einem Symposium konkretere Qualifikationskriterien wie auch Kontrolle. Die Medienbehörde KommAustria erklärte sich nach Beschwerden gegen Bestellungen von Publikumsräten durch Medienministerin Susanne Raab nicht zuständig, um die Auswahl zu beurteilen. Gegen die Bestellung wurde ins Treffen geführt, dass vorschlagende Organisationen nicht repräsentativ seien oder dass sie nicht wie vorgesehen Dreiervorschläge vorlegten.

Die Höchstrichter dürften sich auch mit der Größe von Stiftungsrat und Publikumsrat und dem Mandatsverhältnis unter den Institutionen beschäftigen, die den Stiftungsrat beschicken. Über allem steht die Grundfrage: Gibt es verfassungsrechtliche Vorgaben oder Anhaltspunkte dafür? Aus der Bundesverfassung, aus dem Verfassungsgesetz Rundfunk – oder auch aus der Menschenrechtskonvention. Aus der leitete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – im Fall Moldaus – schon ab, dass die Konvention bestimmenden Einfluss des Staates oder einer politischen oder wirtschaftlichen Gruppe auf den öffentlichen Rundfunk untersagt. Die Menschenrechtskonvention steht in Österreich im Verfassungsrang, sie garantiert Meinungs- und Medienfreiheit – und spielt damit in dem Verfahren vor dem österreichischen Höchstgericht eine wesentliche Rolle.

3. Warum will das Burgenland das wissen?

Warum will das Land Burgenland das eigentlich wissen? Landeshauptmann Hans Peter Doskozil und sein Sprecher erklärten den Prüfantrag mit den 2022 bekanntgewordenen Sidelettern der Koalitionen von ÖVP und FPÖ sowie ÖVP und Grünen über die Besetzung des ORF-Stiftungsrats und von Führungspositionen im ORF. Zudem hätten die von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zutage geförderten Chats vor allem von ÖVP und FPÖ über die Besetzung von ORF-Positionen und Einflussnahmen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Doskozil dazu veranlasst.

Doskozil selbst drängte 2021 auf die Bestellung des langjährigen Chefredakteurs im ORF-Landesstudio Burgenland zum Landesdirektor. ORF-General Roland Weißmann schlug indes die Verlängerung des amtierenden Direktors vor, der Stiftungsrat bestellte diesen wieder mit Mehrheit (entscheidend war auch damals schon die ÖVP). Das Burgenland wechselte daraufhin einen bisherigen Vertrauensmann des Landeschefs im Stiftungsrat aus, als deklariertes Signal für Unabhängigkeit wurde Komponist Christian Kolonovits entsandt. Wenig später folgte der Prüfantrag des Landes an den Verfassungsgerichtshof.

Ein Blogbeitrag von ORF-Anchor Armin Wolf im Frühjahr 2022 könnte Doskozil ebenfalls motiviert haben, heißt es in Eisenstadt: Wolf schloss in dem Blog aus einem Beitrag von Verfassungsgerichtshofpräsident Christoph Grabenwarter zum deutschen Staatsgrundgesetz, dass die Besetzung der ORF-Gremien verfassungswidrig sei, weil sie der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspreche. Aber, so seufzte Wolf in dem Blog, die Bundespolitik sei nicht bereit, daran etwas zu ändern. Bundesländer könnten zwar Prüfanträge stellen, aber die haben ja auch ihre insgesamt neun Mandate im Stiftungsrat. Doskozil könnte Wolfs Ball sportlich aufgenommen haben.

Grabenwarter bezog sich in dem von Wolf zitierten Befund auf die Entscheidung zu Moldau. Der Präsident des Höchstgerichts sagte 2022 in einem Radiointerview, die Situation in Österreich und Moldau sei nicht eins zu eins vergleichbar.

4. Wie läuft die öffentliche Verhandlung?

Vertreter des Kanzleramts und des Landes Burgenland beantworten am Dienstag den Fragenkatalog des Höchstgerichts, üblicherweise sind dafür jeweils 15 Minuten vorgesehen. Danach können die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs weitere Fragen an diese richten. Eine Entscheidung schon am Dienstag wird nicht erwartet. Sie könnte noch in der laufenden Session des Höchstgerichts, jedenfalls wohl noch in diesem Jahr fallen.

Das Land Burgenland wird laut Sprecher des Landeshauptmanns der erfahrene Jurist Florian Philapitsch als Leiter des burgenländischen Verfassungsdienstes vor dem Höchstgericht vertreten. Er hat den Antrag auf Normenprüfung für das Land Burgenland verfasst. Philapitsch ist Landesamtsdirektorinstellvertreter, zuvor war er stellvertretender Leiter der Medienbehörde KommAustria.

Die Republik vertreten der Leiter der juristischen Medienabteilung im Bundeskanzleramt, Matthias Traimer, und sein Stellvertreter, Michael Kogler, Autoren des Standardwerks "Österreichisches Rundfunkrecht".

5. Wie geht es nach einer Entscheidung weiter?

Wenn der Verfassungsgerichtshof Regelungen des ORF-Gesetzes für Stiftungs- und Publikumrat aufhebt, dann üblicherweise mit einer Frist zur Reparatur und samt Vorgaben, wie diese der Verfassung entsprechen kann. Zuletzt hoben die Höchstrichter 2022 die GIS-Finanzierung des ORF auf, weil Ausnahmen für Streamingnutzung der Verfassung widersprächen. Sie verlangten eine unabhängige Finanzierung für den ORF, ÖVP und Grüne beschlossen eine Haushaltsabgabe ab 2024 mit der jüngsten Novelle des ORF-Gesetzes.

Die nächste Novelle könnte mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichts fällig werden. Stiftungsrat und Publikumsrat sind bis Frühjahr 2026 bestellt. Werde Teilen des Gesetzes aufgehoben, könnte dies ihre Funktionsperiode verkürzen. Und wenn der Gesetzgeber die ORF-Aufsichtsgremien neu regelt, dann hat er das schon zweimal dafür genützt, auch die Geschäftsführung des ORF neu bestellen zu lassen.

Der STANDARD berichtet über die öffentliche Verhandlung am Verfassungsgerichtshof. (fid, 26.9.2023)