Ein Schlag auf den Bauch, ein Tritt ins Gesicht. Unter Geschwistern können regelrechte Kämpfe entstehen. Laut Studien streiten sich Geschwisterkinder im Durchschnitt alle 10 Minuten!
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Geschwister haben oft ein schwieriges Verhältnis. Eines, das man als Hassliebe bezeichnen könnte. Einerseits sind sie einander tief verbunden, andererseits sekkieren sie sich bis aufs Blut. Psychologen sprechen dabei von emotionaler Ambivalenz. Und die scheint bei Geschwistern einen wichtigen Zweck zu erfüllen. "Die Familie mit Eltern und Geschwistern ist für das Kind die erste soziale Gruppe, das erste langjährige Trainingsfeld, ein Modell für zwischenmenschliche Beziehungen", sagt Jürgen Frick. Der Schweizer Psychologe und Geschwisterforscher beschäftigt sich seit 25 Jahren intensiv mit Geschwisterbeziehungen.

Das Training, von dem Frick spricht, umfasst den Erwerb vieler sozialer Kompetenzen. Die Kinder lernen dabei, konstruktiv zu streiten, sich zu versöhnen, sich durchzusetzen oder nachzugeben, sich zu solidarisieren, Regeln aufzustellen und im besten Fall Kompromisse zu schließen.

Klingt wunderbar. Aber sagt das mal Eltern, die alle zehn Minuten einen Streit im Kinderzimmer schlichten müssen! Die zehn Minuten sind dabei keine Überzeichnung, sondern Tatsache. US-Studien haben nachgewiesen: Geschwister streiten sich drei- bis sechsmal pro Stunde. Natürlich ist die Häufigkeit und Intensität solcher Reibereien in jeder Familie unterschiedlich. Manche Geschwister streiten vielleicht nie, bei anderen fliegen dafür täglich so richtig die Fetzen. Das größte Konfliktthema ist dabei die Verteilungsfrage: Wer hat mehr Spielzeug, Essen, Taschengeld und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit der Eltern. Zwei Fragen werden deshalb in diesem Text beantwortet: Wie lassen sich Reibereien von vornherein vermeiden? Und wie sollen sich Eltern bei Geschwisterstreit verhalten?

Drei Jahre Altersabstand

Es gibt Wissenschafter, die sagen, Konflikte in der Familie lassen sich bereits durch gute Familienplanung reduzieren. Auch Jürgen Frick sieht das so. Er schreibt in seinem Buch Ich mag dich – du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben, dass ein geringer Altersunterschied zwar zu innigen Beziehungen führt, aber auch der Grund dafür ist, dass es ständig Konflikte gibt. Geschwister, zwischen denen mehrere Jahre liegen, streiten sich dagegen nicht so häufig, dafür ist die Beziehung oft distanzierter. Als besonders günstig gilt ein Altersabstand von drei Jahren. Warum ausgerechnet drei Jahre? Aus entwicklungspsychologischer Sicht besitzt das Kind mit drei Jahren erste Regulationsfähigkeiten. Es hat gelernt, seine Bedürfnisse aufzuschieben, und ist in der Lage, sich anzupassen. Das hilft, Konflikte zwischen den Geschwistern zu vermeiden.

Die Geschwisterforschung zeigt, dass aber auch der Erziehungsstil der Eltern einen maßgeblichen Einfluss auf das Geschwisterverhältnis hat. Ein fürsorglicher Erziehungsstil etwa, bei dem Eltern sich aktiv und liebevoll an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen, schützt vor Geschwister- und auch Gleichaltrigenmobbing. Umgekehrt schlussfolgert eine US-amerikanische Studie, dass sich strenge Regeln, Strafen oder aggressive Sprache negativ auf das Geschwisterverhältnis auswirken. Wobei es auch vorkommt, dass Kinder, die etwa Gewalt in der Familie erfahren, besonders eng zusammenrücken, gerade weil ihnen die Liebe und Fürsorge der eigenen Eltern fehlt.

Gerade kleinere Kinder brauchen noch die Hilfe der Eltern, um Konflikte gewaltfrei zu lösen.
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Eltern sind Vorbilder

Psychische und physische Gewalt wirken sich immer negativ auf die Kinder aus – dass Eltern vor den Kindern nie streiten sollen, hält die Kinderpsychologin Simone Fröch allerdings für einen Mythos: "Wie sollen Kinder lernen, Meinungsverschiedenheiten respektvoll auszutragen, Kompromisse fair auszuhandeln und konstruktive Lösungen zu finden, wenn wir Erwachsene ihnen das nicht vorleben?"

Es sei wichtig, Kindern schon früh beizubringen, wie man richtig streitet. Indem man etwa Ich-Botschaften statt Du-Botschaften sendet: "Das kränkt mich jetzt" versus "Du bist ein Trottel!". Eine andere Möglichkeit sei, Wünsche statt Vorwürfe zu äußern: "Ich wünsche mir, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen" versus "Immer ist dir die Arbeit wichtiger als ich/wir!".

"Es ist ein Mythos, dass Eltern vor den Kindern nicht streiten sollen." Simone Fröch, Kinderpsychologin

Kinder hören ganz genau zu, wie Mama und Papa miteinander sprechen. Die eigenen Eltern sind immer ein wichtiges Vorbild – auch beim Streiten. Da ist sich die Psychologin sicher.

Was können Eltern noch tun, um eine harmonische Geschwisterbeziehung zu fördern? "Von Anfang an die Geschwisterliebe und den Zusammenhalt stärken", sagt Fröch. "Etwa das ältere Geschwisterkind bei der Pflege des Babys miteinbeziehen." Später sind laut Psychologin vor allem physische Grenzen wichtig. "Das ältere Geschwisterkind braucht weiterhin einen Platz, wo es ungestört spielen kann. Eltern müssen also für das Baby oder jüngere Kind unüberwindbare Barrikaden errichten, damit es den selbstgebauten Turm vom großen Bruder nicht umwerfen kann." Generell gilt es als harmoniefördern, den Geschwistern regelmäßig Auszeiten voneinander zu gönnen.

Vergleiche vermeiden

Ein fataler Fehler, der vielen Eltern passiert: Sie vergleichen die Kinder untereinander. "Schau, dein Bruder räumt alles so brav weg – du hilfst nie mit!" ist etwa ein Satz, der bei den Geschwistern schon früh Rivalitäten und Neid fördern kann. Unbedacht von den Eltern ausgesprochen, schüren solche Vergleiche laut Forscherinnen sogar Hassgefühle.

Oft wird auch das ältere Geschwisterkind bei Streit automatisch geschimpft oder bestraft, weil Bezugspersonen von ihm erwarten, dass es gescheiter ist. Ein Beispiel: Der kleine Bruder piesackt die ältere Schwester ständig – vielleicht unbemerkt. Irgendwann rastet die Schwester aus, sie schubst, schlägt, macht das Lieblingsspielzeug des kleinen Bruders kaputt. Der kleine Bruder heult auf, schon kommt Mama oder Papa ins Zimmer gestürmt und schimpft – natürlich mit der älteren Schwester. "Das ist nicht fair", findet Fröch. "Ältere Kinder haben ein Recht darauf, ihre Grenzen zu schützen. Genau wie jüngere Kinder lernen müssen, dass sie nicht beißen dürfen." Natürlich kann sie die Eltern verstehen: "Die sind selbst oft überfordert und erwarten, dass das ältere Kind eine Lösung parat hat." Schimpfen ist für Fröch aber nie eine Lösung. Ganz im Gegenteil, "das kränkt nur", sagt sie.

Nicht Schiedsrichter spielen

Je älter das Kind ist, umso mehr Fähigkeit zur Selbstberuhigung kann man erwarten. Junge Kinder brauchen in einer Konfliktsituation noch die Begleitung von Erwachsenen, um eine konstruktive Lösung zu finden. Ein "Beruhige dich jetzt!" bringt wenig. "Zu wissen, was man tun kann, wenn man wütend ist – außer schreien und schlagen –, müssen die Kinder zuerst lernen."

Eltern müssen sich auch nicht immer und sofort einmischen, ein klares Statement gegen Gewalt sei aber in jedem Fall wichtig: "Hört auf! Schluss jetzt! Alle beide!" Es muss ihm allerdings eine Lösungsidee folgen. "Nur so können die Kinder dabei etwas lernen", sagt Fröch.

Was nicht passieren sollte: dass die Eltern als Schiedsrichter eingreifen oder gar mit Strafen drohen. Stattdessen sollten die erwachsenen Bezugspersonen erkennen, worum es bei dem Streit tatsächlich geht, und anerkennen, dass es eine schwierige Situation ist. "Auch die Kinder können Ideen liefern, wie man den Konflikt am besten auflöst", sagt Fröch. Wichtig ist, dass sich am Ende kein Kind als Verlierer fühlt. (Nadja Kupsa, 14.10.2023)