Seit dem Ersten Weltkrieg weiß man in Österreich, dass Kriege nicht nur auf Schlachtfeldern, sondern auch an den Heimatfronten entschieden werden. Diese zwei Dimensionen, und als dritte den Wirtschaftskrieg, gilt es zu unterscheiden, wenn man über die Zukunft der Ukraine und damit des freien Europas nachdenkt.

Auf militärischer Ebene ist es für die Ukraine im Prinzip nicht schlecht gelaufen im zweiten Jahr des Krieges. Doch im Vergleich zur überraschenden Gegenoffensive im Sommer 2022 sind die Fortschritte gering. Die westlichen Partner der Ukraine rechneten offenbar mit einem Durchbruch in Richtung Asow’sches Meer. Diese Erwartung konnte sich trotz der Lieferung von modernen Panzern, Flugabwehrwaffen und Raketensystemen nicht erfüllen, denn ohne Überlegenheit der Luftwaffe hat die Ukraine wenig Chancen, die russischen Verteidigungslinien zu überwinden. Das Patt im Luftkrieg führt zu einem verlustreichen Grabenkampf, der mehr dem Ersten Weltkrieg ähnelt als dem Zweiten.

Ukraine Russland Krieg
Ein Frieden ist im Ukrainekrieg nicht in Sicht.
Illustration: Colin Verdi

Das Zögern der Nato bei der Lieferung von Kampfjets und Raketen mit einer größeren Reichweite hat vor allem psychologische Gründe: die Angst vor einem Einsatz atomarer Waffen und einer Eskalation des Krieges. Daher wird der Krieg fast ausschließlich auf ukrainischem Boden ausgetragen, mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung. Unterdessen hat Russland in diesem Krieg bereits mehrfach eskaliert: seit dem Herbst 2022 mit dem Bombardement der zivilen Infrastruktur, im Frühjahr 2023 mit dem Ökozid durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms am Fluss Dnipro, seit dem Sommer mit der (erneuten) Seeblockade für Getreideexporte und der Zerstörung von Exporthäfen. Was kommt als Nächstes: eine absichtlich herbeigeführte "Havarie" im Atomkraftwerk Saporischschja? All diese Eskalationsschritte sind folgenlos geblieben, die atomare Erpressung funktioniert also weiterhin und schützt die russische Bevölkerung, abgesehen von Nadelstichen wie den Drohnenangriffen auf Moskau und Militärstützpunkte.

Daher sind die Folgen des Krieges im russischen Alltag wenig spürbar – abgesehen von den mittlerweile über 100.000 Gefallenen. Ein "Afghanistan-Effekt" wie in den 1980er-Jahren ist bisher ausgeblieben. Durch die nationalistische Propaganda bekommt der Tod der Gefallenen sogar einen tieferen Sinn, welcher der "Spezialoperation" zunächst fehlte. Die Russen bekommen mit Rekurs auf den Zweiten Weltkrieg täglich eingebläut, dass sich ihre toten Soldaten für einen zweiten vaterländischen Krieg geopfert haben. In der Ukraine braucht es keine Propaganda, dort ist klar, dass die Nation um ihr Überleben kämpft. Doch das Reservoir an Freiwilligen scheint ausgeschöpft, der Kriegsdienst wird mehr und mehr zwanghaft.

Die Heimatfronten

Seit einigen Monaten wackeln jedoch vor allem die westlichen Heimatfronten. Kann man im Falle Österreichs und anderer EU-Staaten überhaupt von einer Heimatfront sprechen, sind wir so nah dran am Krieg? Aus russischer Sicht ist der gesamte Westen Kriegspartei, und es geht Russland bekanntlich nicht nur um die Ukraine, sondern um die alte Vormachtstellung im östlichen Europa. Der Plural bei den Heimatfronten ist hier bewusst gewählt, denn "der Westen" besteht aus vielen Ländern. Sollten weitere EU-Staaten aus den Sanktionen ausbrechen wie Ungarn, demnächst vielleicht die Slowakei und nach den nächsten Nationalratswahlen Österreich, droht ein Dominoeffekt. In den USA haben die Republikaner damit begonnen, die Unterstützung für die Ukraine, die in erster Linie aus Waffenlieferungen besteht und somit wie ein Konjunkturprogramm für die eigene Rüstungsindustrie wirkt, gegen alle möglichen Themen auszuspielen, von der angeblich mangelnden Fürsorge für die Opfer der Waldbrände auf Hawaii über den Schutz der Grenze zu Mexiko bis zur Inflation. Auch der US-Oligarch Elon Musk hat begonnen, auf der Ukraine herumzuhacken. Das ist deshalb so niederträchtig, weil sich die Ukraine kaum dagegen wehren kann, will sie nicht als "undankbar" gelten und einen Teil der öffentlichen Meinung gegen sich aufbringen.

"Russland hat bisher keinen einzigen seiner Kriege im postsowjetischen Raum mit Verhandlungen oder einem Friedensvertrag beendet."

Auf dieser Ebene hat Russland ohnehin strukturelle Vorteile. Während unabhängige Informationen über den Krieg das weite Land kaum erreichen, sendet Russland über die unregulierten sozialen Medien seine Propaganda in den Westen. Obendrein muss Wladimir Putin nur eine Heimatfront, mit Belarus eineinhalb, unter Kontrolle halten. Sie entglitt ihm beim Aufstand von Jewgeni Prigoschin 30 Stunden lang, doch seit dem "Absturz" des Flugzeugs des Wagner-Chefs sind alle möglichen Konkurrenten im Kampf um die Macht gewarnt.

Die dritte Ebene des Krieges ist der Wirtschaftskrieg, der vom Westen nie als solcher bezeichnet wurde, aber durch die Sanktionen faktisch geführt wird. Auf längere Sicht schaden diese der russischen Wirtschaft, doch zwei Faktoren haben ihre Wirkung von Anfang an begrenzt. China, Indien und Brasilien beteiligten sich nicht an den Strafmaßnahmen, sogar die Nato-Mitglieder Türkei und Ungarn, das trojanische Pferd Putins in der EU, unterlaufen die Sanktionen. Österreichische Firmen machen ebenfalls weiterhin viele Geschäfte mit Russland. Putin hat als Diktator den Vorteil, dass er die russische Industrie leichter auf eine Kriegswirtschaft umstellen kann, während in der Ukraine die Munition knapp wird und die westlichen Waffenlieferungen bisher weitgehend aus Lagerbeständen kamen.

Falscher Augenblick

Über die Wirkung der Sanktionen auf die russische Gesellschaft braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben. Sie verfügt über lange Erfahrungen im Umgang mit Notlagen. Durch die sozialistische Mangelwirtschaft und die tiefe Depression in den 1990er-Jahren musste sich die Bevölkerung Überlebenstechniken aneignen, die in Westeuropa allenfalls betagte Kriegskinder kennen. Der Boykott bei der Belieferung mit westlichen Konsumgütern und Marken wie Mercedes oder Gucci betraf ohnehin nur eine schmale urbane Elite, und Zahlungstransfers kann man ohne das westliche Zahlungssystem Swift abwickeln. Wenn man nur in westlichen Maßstäben denkt, kann man den Wirtschaftskrieg also nicht gewinnen.

Wie und wann kann der Krieg enden? Immer wieder hört man den Ruf nach Verhandlungen. Doch man weiß aus der Konfliktforschung, dass Verhandlungsangebote zum falschen Augenblick auch als Schwäche ausgelegt werden und Kriege verlängern können. Aus zeithistorischer Sicht muss man feststellen: Russland hat bisher keinen einzigen seiner Kriege im postsowjetischen Raum mit Verhandlungen oder einem Friedensvertrag beendet. Auch der erste russische Krieg gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim und dem Einmarsch in der Ostukraine im Jahr 2014 hörte nie auf. Daher muss man sich leider auch jetzt auf einen langen Krieg einstellen. Die Angehörigen der Friedensbewegung, die Verhandlungen fordern – in der Regel ohne vorherige Gespräche mit Ukrainern –, könnten sich unterdessen überlegen, wie man das Opfer des russischen Angriffs auf nichtmilitärischem Wege unterstützen kann. Dem geschundenen Land würden Patenschaften helfen: zwischen Regionen, Städten, Betrieben, Institutionen und auch Familien. (Philipp Ther, 23.10.2023)