Weiße Sprechblasen vor buntem Hintergrund
Was bringen Sprechblasen in Schulbüchern?
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Bildungsminister Martin Polaschek hat die Bedeutung des Lesenkönnens entdeckt! Auf der entsprechenden Seite des Ministeriums wird als erstes Beispiel dafür das "Austauschen von Textnachrichten" angeführt, gefolgt von "Kommunizieren auf Social Media" oder "Anzeigen im Straßenbild". Möglicherweise Gedrucktes taucht bloß einmal dazwischen auf als "Informationen aus Büchern".

Dass das Ministerium einen solchen Begriff von Lesen hat, wundert mich nach meinen Erfahrungen als Deutschlehrer nicht. Jahrzehntelang wurde darauf hingearbeitet. Einige Beispiele: In den 1990ern wurde auf Leitertagungen für Pflichtschulen darauf hingewiesen, dass Leseübungen nicht über die gesamten 50 Minuten einer Unterrichtseinheit ausgedehnt werden sollen. Im Jahr 2006 wurde ein Lehrbuch für Geschichte für die sechste Schulstufe vom Verlag beworben mit dem Slogan "Konsequente Textreduktion zur Entlastung der SchülerInnen", immerhin "verfasst nach den Richtlinien des Bildungsmodells Kompetenz Lernen".

Verwirrtes Auge

Einige Jahre später verlieh sich ein Leseheft für die Unterstufe selbst "Zeitschriftencharakter: A4-Format, modernes Layout, vierfarbige Zeichnungen, Fotos, Mangas". Und als ich von einem renommierten Schulbuchverlag das Angebot erhielt, ein Lesebuch, oder eher Heft, zu gestalten, hätte ich mich folgender Bedingungen zu fügen gehabt: keine Lyrik, auf jeder Seite Farbe und eine Illustration.

Schon 1981 hatte Anneliese Rohrer in der Presse angesichts des Layouts von Lehrbüchern bemerkt: "Das ungeschulte Auge ist verwirrt." Mittlerweile sieht das Gros der Schul-, inklusive der Lesebücher, aus wie die Zeitschrift, von der es in einem Roman des Science-Fiction-Autors Neal Stephenson heißt, sie sei solch ein "visuelles Magazin", dass man sie ohne den Schutz von Schweißerbrillen nicht betrachten könne.

Minister Polaschek hat kürzlich ein "Bildungsforschungsprojekt LeSeDI im Rahmen des Jahresschwerpunktes Lesen" vorgestellt, betrieben von drei Institutionen aus seiner Heimat Steiermark. Grundlegender Leseforschung bedarf es aber keiner mehr. Selbst der Alltagserfahrung erschließt sich, dass beständige Konzentration und gleichbleibende Aufmerksamkeit beim Lesen erforderlich sind. Durch die oben angeführten Beispiele wird dies mutwillig vermittels Delinearisierung verhindert.

Wichtige Lücken

Das bedeutet: Lesen, und ganz besonders das Lesenlernen, kann nur linear und sukzessiv ohne Ablenkung sinnvoll vonstattengehen. Nun bewirkt die mediale Wirklichkeit genau das Gegenteil. Daher bedürfte es eines Leseunterrichts als Schutzraum, in dem Zeit ist für Wörter, Sätze, Texte, umgeben von Weißraum.

Die Schriftstellerin und Typografin Judith Schalansky weist auf die Wichtigkeit des Leerraums auf Buchseiten hin, der "Ausgewogenheit und Schönheit schafft". Es müssten Bücher gestaltet werden, die Kinder und Jugendliche ernst nehmen, es sei dies vor allem eine Frage der Ästhetik. Die bunt unterlegten Flächen und anbiedernden Sprechblasen gehörten abgeschafft, doch seien Weißräume bei den Verlagen, Redaktionen und Kommissionen nicht erwünscht, sie verleiteten zum Hineinkritzeln, dazu gebe es die Arbeitshefte. Und Schalansky schließt mit der Forderung: "Die Lücken, die Weißräume im Schulbuch, die vermieden werden sollen, sind wichtig. Allein schon, um den Schülern das Gefühl zu vermitteln: Strengt euch an! Da ist noch was zu holen."

"Nachteile hat für Lesenlernende und -übende zweifellos die bunte, chaotische Lehrbuchseite."

Forschungen zum Lesen in verschiedenen Medien gibt es zuhauf, siehe etwa die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens von 2019, die deutlich macht, dass weder das digitale noch das herkömmliche Lesen besser ist, es aber zu entscheiden gilt, wann welches Format welche Vor- oder Nachteile bietet.

Nachteile hat für Lesenlernende und -übende zweifellos die bunte, chaotische Lehrbuchseite ohne Weißraum, selbst der E-Book-Reader mit seiner flüchtigen Textoberfläche scheint besser geeignet. Und Windows-Oberflächen, mit denen man ja offensichtlich Schulkinder nicht früh genug vertraut machen kann, wenn es nach dem "Masterplan für die Digitalisierung im Bildungswesen" des Bildungsministeriums geht, können als wahre Ablenkungsvorrichtungen fungieren. Wovon auch jeder erwachsene User ein Lied singen kann.

Kontrapoduktive Anbiederung

Anbiederung an hypertextuelle Oberflächen, die etwa 2014 in einem Oberstufenlesebuch mit dem Slogan "Surfen im Textuniversum" betrieben wurde und mit einer radikalen Kürzung der Texte einherging, ist kontraproduktiv. Surfen und Lesen sind radikal unterschiedliche Dinge. Ob dies im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, was die Pflichtschule betrifft, bekannt ist? (Peter Apfl, 28.10.2023)