Mädchen sitzt am Schreibtisch vor einem Buch, blickt nach oben
Lernen für das Leben oder für die Schule? Kinder haben Stärken, die oft nicht wahrgenommen werden.
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Ich kann sie nicht mehr hören, diese ewige Standardphrase: "Wir müssen die Kinder schließlich auf ‚das Leben‘ nach der Schule vorbereiten, deswegen ist die Schule, wie sie nun mal ist!" Denn: Wie realistisch ist diese Phrase? Bereiten wir die Kinder in der Schule nicht viel eher darauf vor, in und an dieser "Wirklichkeit", am "Leben" zu scheitern? "Non vitae sed scholae discimus", "Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir", ätzte bereits Seneca, auch wenn das Zitat später "schuldienlich" umgedreht wurde.

Eine meiner Töchter war während ihres gesamten Schullebens praktisch ausschließlich 1er-Schülerin, 1,0-Matura; ihr Studium in den USA hat sie ausschließlich mit A+ oder A-Grades absolviert. Doch dann fand sie heraus, dass jene ominöse Wirklichkeit, auf die sie in der Schule angeblich hätte vorbereitet werden sollen, gar nicht den Systemkriterien der Realität entsprach. Diesen schulischen Systemkriterien – schön brav vorgesetzten Zwangsstoff reinpressen und gegen den Tauschwert "Note" wieder rauswürgen – hatte sie perfekt entsprochen, aber jetzt stand sie plötzlich vor völlig anderen Fragen und Anforderungen, auf die sie einfach nicht vorbereitet war, jedenfalls nicht von der Schule. "Kein (potenzieller) Arbeitgeber hat mich bisher nach meinen Maturanoten gefragt, die wollten immer nur wissen, welche Berufserfahrungen ich mitbringe."

Kein Zukunftsmodell

Ihr wollt die Kinder auf "das Leben" vorbereiten? Dann bringt ihnen grundlegende handwerkliche Fähigkeiten bei! Lehrt sie, wie man einen Versicherungsabschluss macht und worauf man dabei achten muss! Lehrt sie, was ein Miet-, ein Leasing-, ein Kaufvertrag ist und worauf man dabei achten muss! Lehrt sie, wie man eine Bewerbung schreibt, eine Reklamation, einen Leserbrief, eine Petition. Lehrt sie, wie man einen kaputten Fahrradschlauch repariert!

Lehrt sie, dass ihr Konsumverhalten mit Ereignissen in anderen Teilen der Welt in Zusammenhang steht und wieso sich das in ihrer eigenen Zukunft negativ für sie selber auswirken kann (nein: wird!). Dass die "Zuvielisation" kein Zukunftsmodell ist. Und macht ihnen bewusst, was das alles mit (angeblich) unveräußerlichen Kinder- und Menschenrechten zu tun hat.

Zeit und Muße

Ihr wollt die Kinder auf "das Leben" vorbereiten? Dann lehrt sie kochen! Lehrt sie Lebensmittelkunde! Lehrt sie grundlegende landwirtschaftliche Kompetenzen, und wenn es nur das Kräuterbeet und der Topf mit Tomatenpflanzen auf der Terrasse ist. Informiert sie über die Möglichkeiten von Gemeinschaftsgärten, "community shared agriculture", "food sharing" und die Möglichkeit, selber "food saver" zu werden, über die vielen regionalen Initiativen, Regional- und Bauernmärkte und wie man sich da auch mit vergleichsweise schmalem Budget mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen kann. Warum? Weil Ernährung nun einmal fundamental ist, die Basis, ohne die gar nichts geht.

Und besonders wichtig: Lasst ihre Kreativität zu! Einfach zulassen, da muss man nichts "fördern". Lasst sie spinnen! Lasst ihnen ihre Eigenart, so anstrengend die auch bisweilen sein mag! Gebt ihnen Raum, Zeit und Muße (altgriechisch "schole") dafür.

Schräg und schrill

Lebt ihnen Verantwortung vor, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Empathiefähigkeit, Teamfähigkeit, praktische und originelle Lösungskompetenzen (gerne auch schräg und schrill)! Lebt ihnen Respekt, Rücksichtnahme, ehrliche Wertschätzung und Freundlichkeit vor!

Und dressiert sie nicht stupide auf Vergleichswettkämpfe – wo es gar nichts zu vergleichen gibt! Ein Kind, das "schwach" in Mathematik ist und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Schularbeit angestrengt hat, hat allemal mehr geleistet als das Mathe-Genie, dem das mit dem Zahlenzeugs "von selbst" zufliegt. Das wäre mal ein anderer Zugang zum Begriff "Leistungsgerechtigkeit". Und mit hoher Wahrscheinlichkeit hat das "lernschwache" (vulgo: "nicht systemkonforme") Kind anderswo Stärken, die nur im anachronistischen System nicht relevant sind, nicht wahrgenommen werden.

"Bloß raus aus dieser entwürdigenden Beschulungsschule."

Lasst sie allerspätestens in der Pubertät Erfahrungen in lebenspraktischen Projekten machen. Ob sie einen Bauernhof sanieren, in einer (Bio-)Landwirtschaft mitarbeiten, in sozialen Einrichtungen, in Alten- und Pflegeheimen, in kulturellen Projekten, künstlerischen, politischen, zivilgesellschaftlichen, technischen. Gebt ihnen die Chance, sich bewähren zu können! Lasst sie entsprechend ihren Begabungen, Interessen, Talenten und Träumen irgendwas tun, alles – bloß raus aus dieser entwürdigenden Beschulungsschule, diesem unsäglichen Verbildungssystem!

Zwingt sie nicht

Bitte verschont sie mit "Infinitesimalgleichungen" und Periodentafeln und französischer oder lateinischer oder chinesischer oder auch deutscher Grammatik, wenn es für sie nur Quälerei ist. Lehrt sie Rhetorik, lehrt sie argumentieren, hinterfragen, kritisch reflektieren, ermutigt sie, stärkt ihr Selbstbewusstsein, ihr soziales Bewusstsein, ihre Selbstaufmerksamkeit – lehrt sie philosophieren!

"Es geht um Persönlichkeitsbildung, nicht um Stoffstopfgänsepädagogik!"

Und – selbstverständlich: Lasst sie Infinitesimalgleichungen lösen, in Fremdsprachen eintauchen, in Mathematik, Chemie und Physik, in IT und KI, in die tiefsten Tiefen jeglicher Kaninchenbauten, whatever, nach Interesse, Lust und Laune, wenn sie nur Freude daran haben. Aber zwingt sie nicht, nötigt sie nicht und erspart ihnen diese lähmende Angst, die Triebfeder des ganzen unzeitgemäßen Systems ist und jeglichen "Geist" zerstört. Es geht um Persönlichkeitsbildung, nicht um Stoffstopfgänsepädagogik!

Dass all dies für die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung höchstgradig relevant ist, liegt auf der Hand. Platon lässt grüßen: Wenn eine Gesellschaft besser werden soll, braucht es entsprechende Bildung und demzufolge auch entsprechende Lehrende. Dass diese hinreichendes Fachwissen brauchen, steht ebenfalls völlig außer Frage. Aber was noch wichtiger ist – hier grüßt John Hattie –, ist die pädagogische Kompetenz, qualitativ hochwertige Beziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen leisten und leben zu können. Die fällt nicht einfach so vom Himmel. Auch auf dieser Ebene brauchen wir einen Paradigmenwechsel, um wirklich in die Zukunftsspur zu kommen. Es war damals mein Traum: "PädagogInnenbildung NEU!" – Schule neu, Gesellschaft neu. Aber dafür wäre eben die Voraussetzung: nicht für die Schule, für das Leben ... (Thomas Mohrs, 29.10.2023)