Netanjahu begrüßt Biden am 18. Oktober in Tel Aviv.
Drückte die Unterstützung der USA für Israel auch vor Ort aus: US-Präsident Joe Biden wird Mitte Oktober in Tel Aviv von Premier Benjamin Netanjahu begrüßt.
REUTERS/EVELYN HOCKSTEIN

Als der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag den Begriff der "Zeitenwende" angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine prägte, da war zwar bereits das Risiko der Ausweitung dieses Krieges zu sehen. Der Kanzler hatte gewiss nicht eine Kette von regionalen Kriegen und einem nahezu täglich anwachsenden Klima von aggressiver Konfrontation in den Beziehungen zwischen den Großmächten vorausgesehen. An diesem Punkt sind wir heute aber angelangt.

Zuerst war es Wladimir Putin und sein grundloser Überfall auf die Ukraine. Dann überfiel die Terrorgruppe Hamas mit unglaublicher Brutalität Israel von Gaza aus, tötete 1.400 Israelis, die meisten davon Zivilistinnen und Zivilisten, und entführte mehr als 200 Israelis als Geiseln nach Gaza. Eine Terrorgruppe hat mit tödlicher Präzision die stärkste Militärmacht des Nahen Ostens mit den besten Geheimdiensten aus dem Nichts heraus überrascht. Wie war das möglich? Diese Frage zu stellen wirft sofort eine weitere auf: Kann eine Terrororganisation diese Aufgabe überhaupt allein bewältigen?

Präzise Planung

Die präzise Planung, die skrupellose Brutalität gegenüber israelischen Zivilistinnen und Zivilisten, unterschiedslos Alte, Frauen, Junge, ganze Familien bis hin zu Babys, mit dem einen Ziel, das Trauma der Juden zu reaktualisieren, nämlich die Erinnerung an die Shoah, den Versuch der deutschen Nazis schon einmal das jüdische Volk zu ermorden. Juden sollten sich, trotz des militärisch übermächtigen Staates Israel, nirgendwo sicher fühlen, lautete die Botschaft des 7. Oktober. Kann dies eine Terrorgruppe für sich allein planen und umsetzen? Oder steht vielmehr ein Staat dahinter? Wenn ja, wer? Der Iran?

Der Anschlag vom 7. Oktober hat die Region des Nahen Ostens an den Rand eines großen Krieges gebracht, in den auch die USA und Europa hineingezogen werden können. Aber auch andere Länder wie China (ein wichtiger Importeur von iranischen Kohlenwasserstoffen) haben Berichten zufolge Kriegsschiffe in die Region entsandt. Israel muss militärisch zurückschlagen, um seine Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen. Dieser Krieg wird weitere zivile Opfer kosten und noch mehr Hass zwischen beiden Seiten säen. Aber auch diese Konsequenzen dürften die Planer skrupellos eingeplant haben, was ebenfalls gegen die alleinige Täterschaft einer Terrorgruppe spricht.

"Beide Kriege, sowohl der in der Ukraine als auch der in Israel und Gaza, werden um die Existenz von Staaten und Nationen geführt."

Es fällt auf, dass beide Kriege, sowohl der in der Ukraine als auch der in Israel und Gaza, um die Existenz von Staaten und Nationen geführt werden. Der militärische Konflikt im Nahen Osten macht aber auch eine neue Weltordnung sichtbar. Der Globale Süden mit seiner Kolonisierungserfahrung steht überwiegend auf der Seite der Palästinenser und der autoritären Weltmächte Russland und China, der Westen aufseiten Israels.

Globale Neuordnung

Diese Neuordnung hat sich bereits nach Putins Angriff auf die Ukraine abgezeichnet und darf vom Westen nicht einfach hingenommen werden, sondern wird großer diplomatischer Anstrengungen bedürfen, denn "the West against the rest" kann auf Dauer nicht gutgehen. Der Globale Süden ist nun einmal ein wesentlicher Teil der neuen Weltordnung und fordert Anerkennung und Berücksichtigung.

Neben den beiden Kriegen in der Ukraine und in Nahen Osten drohen zudem in Fernost im Südchinesischen Meer und in der Taiwan-Straße weitere militärische Konflikte, diesmal direkt zwischen den beiden Supermächten USA und China. Ein Krieg wie der im Südkaukasus zwischen Armenien und Aserbeidschan um die Region Bergkarabach gerät angesichts dieser aktuellen Entwicklungen beinahe in Vergessenheit.

"Prestige und Ambition rangieren vor Vernunft, ebenso religiöse und nationale Leidenschaften."

Es ist jedoch nicht nur der Versuch, die internationalen Gewichte neu zu justieren und so die Weltordnung zu revidieren und eine neue durchzusetzen, was in der Regel in der Geschichte nie ohne Gewalt geschehen ist. Noch beunruhigender ist der in letzter Zeit zu beobachtende aggressive Ton im Umgang der Großmächte miteinander. Die Welt der Pax Americana nach 1945 scheint verwundbarer als je zuvor. Die wichtigsten Rivalen scheinen nicht abzuwarten, sondern ihre Schwäche ausnützen zu wollen. Das Interesse am Erhalt des Status quo scheint spürbar abgenommen zu haben.

Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass eine Erinnerung an das Jahr 1914 unsere Zeit bestimmt. Die Gefahr, dass sich die Ereignisse verselbstständigen, ist unschwer festzustellen. Prestige und Ambition rangieren vor Vernunft, ebenso religiöse und nationale Leidenschaften. In diesen Tagen erleben wir auch, wie chaotisch die Welt ohne eine Ordnungsmacht aussähe. Wie würde denn die Krise im Nahen Osten verlaufen ohne die Ordnungsmacht USA und die kluge, ja weise Vernunft jenes oft belächelten älteren Herrn im Weißen Haus, Joe Biden? Sie wäre ein noch unsicherer und gefährlicherer Platz, dessen bin ich mir gewiss. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 2.11.2023)