Liebe Genossinnen und Genossen der Europäischen „Linken“! Diese Zeilen sind nicht das Ergebnis einer gut durchdachten intellektuellen Analyse, sondern von Nächten mit sehr wenig Schlaf, heftigen Emotionen der Trauer, Traurigkeit, Wut, Frustration, Hilflosigkeit und Sorge darüber, was die nächsten Tage des Krieges mit sich bringen werden. Ich schreibe Euch, weil Ihr logischerweise auch in diesen Tagen meine Partnerinnen und Partner sein solltet im Kampf für eine bessere Welt mit mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und auch – ich wage es, dieses Wort sogar in diesen Tagen zu erwähnen – Frieden.

Ich schreibe auch deshalb, weil ich mich viele Jahre lang geweigert habe, die Über­zeugung meiner Eltern, Überlebende von Auschwitz, zu akzeptieren, dass wir Jüdinnen und Juden in Wahrheit auf uns allein gestellt sind und es niemanden gibt, auf den wir uns verlassen können. Sie hatten nicht recht. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der Präsident Frankreichs, der deutsche Kanzler, der österreichische Kanzler und andere kamen und drückten ihre Solidarität aus, ein Teil von ihnen nicht nur mit Worten.

Linke Solidarität

Aber wir, die fortschrittlichen Israelis, wir fühlen uns ziemlich allein. Wir können gut damit leben, dass wir uns nicht auf unsere ­Regierung verlassen, weil wir das nie getan haben, und eine große Mehrheit der Israelis tut das auch heute nicht. Monat für Monat, Woche für Woche waren und sind wir auf den Straßen Israels zusammen mit hunderttausenden anderen Israelis, um uns der Absicht der Regierung zu widersetzen, in unserem Land ein autoritäres System zu installieren, und wir werden damit fortfahren, sogar mit noch mehr Kraft. Ich verspreche es!

Aber es fällt mir schwer, die Haltung, wie sie in den letzten Tagen von einem Teil der sogenannten fortschrittlichen Kräfte in Europa und den USA artikuliert wird, zu hören. Es hat mich nicht überrascht, ich kenne diese Meinungen über die Jahre zu gut. Aber dennoch, nach dem blutigen, brutalen, mörderischen Angriff der Hamas auf israelische Zivilistinnen und Zivilisten im Süden Israels ist es schwerer zu ertragen. Das war ein Gemetzel in der Tradition des Todeskultes des Islamischen Staates.

Eine Frau hält ein Schild mit der Aufschrift
Eine Demonstrantin in Tel Aviv fordert die Rückkehr der entführten Israelis.
Foto: Reuters / Ammar Awad

Ich weiß, Ihr seid dagegen, und wenn wir nicht reagieren würden, wärt Ihr "empathisch" mit uns geblieben, weil Ihr uns als Opfer gern habt. Aber Ihr mögt es weniger, wenn wir ­Juden diese historische Rolle ablehnen und ­reagieren und uns verteidigen. Sehr schnell relativiert Ihr: Unsere Opfer des Massakers im Süden und das Leiden der palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza, als ob Kollateralschäden einer Militäraktion, bei der die Zivilbevölkerung leidet und auch ihr Leben verliert – was aber nicht das Ziel ist –, dasselbe sei wie das vorsätzliche Ermorden von Zivilistinnen und Zivilisten, Kindern, Frauen, alten Menschen, das Entführen, Foltern, Vergewaltigen, Enthaupten.

Hamas bekämpfen

Habt Ihr eine andere Idee, wie man die Hamas bekämpfen kann, als dort anzugreifen, wo sie ist und herrscht? Oder erwartet Ihr im Geheimen von uns, dass wir nicht reagieren, was bedeutet, dass wir unser Recht auf Selbstverteidigung verweigern? Fordert Ihr das von jedem anderen Land? Und wenn nicht, was bedeutet das? Dass Ihr unser Recht, ein souveränes Land zu sein, nicht anerkennt? Bitte, ein kleines bisschen intellektuelle Aufrichtigkeit.

Sehr schnell "erklärt" Ihr: "Der Angriff ist das Ergebnis der Besetzung und des Leidens des palästinensischen Volkes." Glaubt Ihr das wirklich? Ich nehme nicht an, dass Ihr an einer mentalen Schwäche leidet. Wisst Ihr wirklich nicht, was die Hamas, der Jihad, die Hisbollah seit Jahren offen sagen? Dass das Problem die Existenz einer nichtislamischen jüdischen Einheit in einer islamischen Region ist und die einzige Lösung ihr und unser Verschwinden von hier wäre? Wenn Ihr es wirklich nicht wisst, dann nur, weil Ihr es nicht wissen wollt. Aus welchen Gründen?

Hass im Zenit

Wir werden weiterhin für unsere Werte kämpfen, auch in diesen Tagen in Israel, was nicht einfach ist, wenn der Hass in seinem ­Zenit steht. Aber Ihr begebt Euch mit dieser Haltung in die politische Irrelevanz und schwächt die demokratischen Kräfte in Euren Ländern, in denen die Demokratie auch nicht garantiert ist. (Avi Rybnicki, 1.11.2023)