Zerstörte Gebäude, Menschen
Das zerstörte Flüchtlingslager Jabalia nach einem israelischen Angriff auf darunterliegende Tunnel der Hamas.
Foto: Reuters / Anas al-Shareef

Nur wenige Stunden nach Beginn der Terrorangriffe der Hamas gegen Israel und der israelischen Gegenreaktion riefen die ersten humanitären Organisationen die Konfliktparteien dazu auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten. Einige dieser Mahnungen richteten sich dezidiert an beide Seiten, andere sprachen nur Israel an. Als sich der Fokus auf die humanitär-völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels in den darauffolgenden Tagen und Wochen verstärkte, geriet eines in den Hintergrund: Viele der Vorschriften des humanitären Völkergewohnheitsrechts gelten auch für die Hamas – und diese Organisation brach sie nicht nur am 7. Oktober (und zuvor) eklatant, sondern tut es auch weiterhin, und zwar sowohl gegenüber der israelischen Zivilbevölkerung als auch der Zivilbevölkerung in Gaza.

Hohe Maßstäbe

Dass die Hamas in der Debatte zum Israel-Hamas-Krieg wenig, Israel jedoch viel Raum einnimmt, ist wohl drei Hauptgründen geschuldet: Erstens handelt es sich bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften um eine offizielle Armee eines Staates, bei der Hamas hingegen um eine organisierte nichtstaatliche bewaffnete Gruppierung; zweitens sind die israelischen Streitkräfte die Armee eines demokratischen Staates, an dessen Kriegsführungspraxis man besonders hohe Maßstäbe anlegen darf und sollte, während der bewaffnete Arm der Hamas eine Terrororganisation ist, die sich gerade durch asymmetrische und unterschiedslose Kriegsführung auszeichnet.

Drittens schließlich herrscht unter Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern mehrheitlich die Auffassung vor, dass es sich bei diesem Krieg um einen "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt" handelt, also um einen Konflikttypus, für den nur ein Teil der Regeln gilt, die in zwischenstaatlichen Kriegen gelten. Den grundlegenden Regeln jedoch, allen voran solchen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen, unterliegen nach dem Völkergewohnheitsrecht auch nichtstaatliche Gewaltakteure in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten.

Angst und Schrecken

Die Massaker, die die Hamas vorrangig an Zivilistinnen und Zivilisten auf israelischem Territorium verübte, und die Gefangennahme von mehr als 200 Geiseln werden als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs eingestuft. Der Strafgerichtshof ist im Übrigen durch den Beitritt Palästinas im Jahr 2015 nicht nur für die Situation in den besetzten Gebieten, sondern auch für die Verbrechen durch Angehörige dieser Gebiete zuständig.

Auch nach den Terrorattacken vom 7. Oktober verstößt die Hamas durchgehend gegen das wichtigste humanitär-völkerrechtliche Verbot, nämlich das Verbot unterschiedsloser Kriegsführung, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen schießt die Hamas auch jetzt noch Raketen gegen Städte – und damit zivile Ziele – in Israel ab. Diese werden zwar größtenteils vom israelischen Raketenabwehrschirm Iron Dome abgefangen, versetzen aber die Menschen in Israel dennoch in Angst. Gewalt mit dem primären Zweck, Schrecken in der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist ebenfalls ein Regelbruch.

"Die Hamas versucht verbotenerweise, sich selbst militärisch immun zu machen."

Zum anderen verletzt die Hamas auch dadurch das Unterscheidungsgebot, dass sie sich nicht einmal bemüht, die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza vor den Auswirkungen militärischer Operationen zu schützen. Als Konfliktpartei müsste sie zumindest darauf verzichten, militärische Ziele in der Nähe dichtbesiedelter Gebiete zu platzieren. Ihre Strategie ist das Gegenteil: Die Hamas versucht verbotenerweise, sich selbst militärisch immun zu machen, indem sie die zivile Immunität ausnutzt und militärische Ziele (Raketenabschussrampen, Waffendepots, Schaltzentralen) inmitten oder unterhalb ziviler Ziele platziert. Für die Angreifer wird es damit schwer bis unmöglich, zu unterscheiden.

Ein weiterer Verstoß gegen die Pflicht, zum Schutz von Zivilpersonen alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, ist auch der Versuch der Hamas, die palästinensische Zivilbevölkerung von der Evakuierung abzubringen. Und nicht zuletzt hat die Hamas zwar für ihre eigenen Aktivitäten ein Tunnelsystem errichtet, jedoch keine Luftschutzbunker für die Zivilistinnen und Zivilisten.

Arabische Welt

Es mag müßig oder gar absurd erscheinen, auf die humanitär-völkerrechtliche Verantwortung einer Terrororganisation hinzuweisen. Und dennoch dürfen diese Aspekte in der Debatte nicht fehlen. So setzt sich beispielsweise das Internationale Komitee vom Roten Kreuz aktiv, wenn auch unterhalb des öffentlichen Radars, dafür ein, auch nichtstaatliche Akteure für den Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten zu sensibilisieren, gerade weil es weiß, dass solche Gruppierungen die Zivilbevölkerung besonders gefährden. Rechtsverstöße, zumal derart massive, müssen auch dann kritisiert werden, wenn sie von Akteuren ausgehen, denen man ohnehin nichts anderes zutraut – auch um deutlich zu machen, wo die Grenze zwischen dem, was nach dem Recht des bewaffneten Konflikts akzeptabel, und dem, was illegal ist, verläuft.

Das Anprangern der Rechtsverletzungen der Hamas darf aber auch aus zwei anderen Gründen nicht unterbleiben: Ziel dieser Kritik sind die Akteure in der arabischen Welt, denen man einen gewissen Einfluss auf die Hamas zuschreibt. Sie können und müssen ihre Hebel nutzen, um die Hamas zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung und der Freilassung israelischer Geiseln zu bewegen. Überdies ist es politisch wichtig, immer wieder deutlich zu machen, dass die Hamas nicht mit der palästinensischen Zivilbevölkerung gleichzusetzen ist und auch mitnichten die Interessen dieser Bevölkerung vertritt, sondern sie für ihre eigenen Ziele instrumentalisiert und opfert. (Elvira Rosert, 4.11.2023)