Place de la République, Paris. Rund um das Monument à la République Menschen unter anderem mit Palästina-Flaggen
15.000 Menschen versammelten sich am Sonntag auf der Place de la République in Paris zu einer Pro-Palästina-Kundgebung.
Foto: Imago / Apaydin Alain / Abaca

Mitgefühl und Solidarität mit Israel haben eine kurze Halbwertszeit. Mit jedem Tag, an dem das israelische Bombardement der militärischen Infrastruktur der Hamas in Gaza andauert, Bilder verzweifelter Menschen und zerbombter Stadtviertel die sozialen Medien und Nachrichtenkanäle fluten, wird Israel in der öffentlichen Wahrnehmung der westlichen Welt immer weniger als Opfer des islamistischen Gewaltexzesses der Hamas gesehen, sondern mehr und mehr als Täter. Dieser Eindruck wird sich mit dem Start der Bodenoffensive noch verstärken. Die Hamas wird ihre Strategie intensivieren, den jüdischen Staat als Unrechtsstaat zu brandmarken und damit den Hass auf Israel und die Jüdinnen und Juden insgesamt anzuheizen.

Druck auf Israel

Ihr Ziel ist, einen antisemitischen, israelfeindlichen Spin in der öffentlichen Meinung herzustellen. Israel soll um jeden Preis in die Täterrolle gedrängt werden, um den jüdischen Staat zu delegitimieren, zu dämonisieren und so auf internationaler Ebene öffentlichen Druck gegen Israel aufzubauen. Die zynische und menschenverachtende Strategie der Hamas, ihre terroristische und militärische Infrastruktur bewusst in die zivile Infrastruktur im Gazastreifen zu integrieren, dient dem teuflischen Zweck, das Leid der eigenen Bevölkerung in Gaza auf perverse Weise zu instrumentalisieren. Hohe Opferbilanzen und Bilder des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung sollen medienwirksam emotionalisieren und weltweit gegen Israel mobilisieren.

Mit der lautstark bei Pro-Palästina-Demonstrationen geforderten Befreiung der palästinensischen Bevölkerung hat das nichts zu tun. Der Kampf geht ausschließlich darum, den jüdischen Staat zu delegitimieren. Palästina soll von den Juden "befreit" werden, wie es die Charta der Hamas und das hinter ihr stehende Mullah-Regime in Teheran seit jeher proklamieren.

Antisemitismus nimmt zu

Dieses Kalkül, mit antijüdischer und israelfeindlicher Stimmungsmache im Westen zu punkten, geht leider viel zu oft auf. Denn der antisemitische Bodensatz ist immer noch fruchtbar. Sämtliche empirische Daten signalisieren: Europaweit nehmen Antisemitismus und Judenhass von Jahr zu Jahr zu.

"Antisemitismus gleicht einer Schlange, die sich häutet – aber es bleibt immer dieselbe Schlange."

Es gibt eine gemeinsame Schnittmenge von tradiertem rechten wie auch linken Antisemitismus in Europa mit der importierten islamischen Judenfeindlichkeit der Migrantinnen und Migranten aus arabischen Ländern: die Feindschaft gegen Israel. Diese explosive Mischung entlädt sich gerade auf unseren Straßen und in europäischen Städten.

Schon im Sommer 2015 skandierten die Massen bei Anti-Israel-Demos auf deutschen Straßen: "Hamas, Hamas – Juden ins Gas". Der Antisemitismus war nie weg, er tarnt sich nur im neuen Gewand der Israelfeindlichkeit. Denn Antisemitismus gleicht einer Schlange, die sich häutet – aber es bleibt immer dieselbe Schlange. Weil Europa selbst unter antisemitischer Immunschwäche leidet, vermag es dem Antijudaismus auch keine entschiedene Abwehr entgegenzusetzen. Der importierte islamische Judenhass findet im alten, christlich geprägten Antisemitismus Europas sein unheilvolles Echo.

Vernunft und Aufklärung

Staatliche Repression kann versuchen, den manifesten Judenhass einzudämmen. Gegen den latenten, in kollektiven Tiefenschichten der Gesellschaft sitzenden Antisemitismus sind wir, so müssen wir drei Generationen nach Auschwitz zugeben, nahezu machtlos. Gegen das destruktive Vorurteil und den irrationalen Hass auf alles Jüdische vermag die Vernunft, vermögen Argumente, Information und Bildung leider wenig auszurichten. Aber wir haben nichts anderes, als auf diese Vernunft zu setzen, also unermüdlich Aufklärung zu betreiben, um die antisemitischen Obsessionen zu bekämpfen.

Das gilt für die Gesellschaften in Deutschland wie auch in Österreich, in denen sich Jüdinnen und Juden immer unsicherer und unwohler fühlen. Das gilt in besonderem Maße aber auch für die Musliminnen und Muslime und ihre Verbände. Der 7. Oktober ist auch für sie der Lackmustest, wie sie es mit der Judenfeindschaft und der Feindschaft gegen den jüdischen Staat halten.

Halbherzige Distanzierung

Mehr als halbherzige Distanzierung aus muslimischen Reihen ist nach dem Massaker der radikalislamischen Hamas nicht zu hören. Kein öffentlicher, medienwirksamer Aufschrei muslimischer Empörung gegen die Bestialität in Namen Allahs; keine Demonstrationen, kein Lichtermeer, mit dem Muslime in Europa und der Welt ihre Solidarität mit den jüdischen Opfern zum Ausdruck hätten bringen können; keine unmissverständliche Distanzierung führender Imame von den Verbrechen des islamistischen Terrors gegen unschuldige Zivilisten. Anstelle dessen oberflächliche Lippenbekenntnisse gegen Gewalt, von welcher Seite auch immer.

Aber mit der Feststellung humanitärer Selbstverständlichkeiten ist es jetzt nicht mehr getan. Jetzt müsste mehr und Grundsätzliches geschehen. Das würde etwa bedeuten, die seit Jahren von maßgeblichen muslimischen Vorreitern eines aufgeklärten europäischen Islam vorgetragene Kritik an einer "Theologie der Gewalt im Koran" (Hamed Abdel-Samad) ernst zu nehmen. (Maximilian Gottschlich, 24.10.2023)