Nach den Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober hat Israel jedes Recht und jeden Grund, einen anhaltenden Militäreinsatz zur Zerschlagung der Terrorgruppe zu führen. Und die Israelis scheinen dazu entschlossen zu sein. Sie sollten sich aber auch die mahnenden Worte von US-Präsident Joe Biden zu Herzen nehmen.

Bei seinem Besuch in Tel Aviv am 18. Oktober zeigte Biden Verständnis für die Wut der Israelis. "Ich und viele Amerikaner verstehen das", sagte er. Biden riet den Israelis aber auch, sich nicht von ihrer Wut beherrschen zu lassen. "Nach dem 11. September 2001 waren wir in den Vereinigten Staaten wütend", warnte er, "und während wir Gerechtigkeit suchten und bekamen, haben wir auch Fehler gemacht." Zwei Tage später wiederholte Biden in einer Fernsehansprache zur Hauptsendezeit seinen Appell an die israelische Regierung, sich "nicht von der Wut blenden zu lassen".

Biden, links im Bild, Netanjahu rechts
US-Präsident Joe Biden und Israels Premier Benjamin Netanjahu bei einem Treffen in Tel Aviv in den Tagen nach dem Hamas-Anschlag auf Israel.
Foto: AP / Miriam Alster

Wie würde es in der Praxis aussehen, wenn Israel Bidens Rat folgen würde? Welche Lehren sollte die israelische Regierung aus den strategischen Fehlern der USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ziehen?

Auf die harte Tour

Erstens sollte Israel seine militärischen Fähigkeiten einsetzen, um klar definierte militärische Ziele zu treffen – Hamas-Führer, Kommandozentralen, Waffenlager und Tunnel –, aber die Verantwortlichen sollten sich nicht der Illusion hingeben, dass mit roher Gewalt ein gewünschtes politisches Ergebnis erzielt werden kann. Sowohl in Afghanistan als auch im Irak haben die USA auf die harte Tour gelernt, dass überlegene militärische Macht zwar nützlich ist, um Gegner auszuschalten, aber selten das angestrebte politische Ziel erreicht.

Afghanistan ist nach zwei Jahrzehnten kostspieligen Engagements der USA wieder in der Hand der Taliban, und der Irak leidet unter politischer Dysfunktion und innerer Zerrissenheit. Während Israel keine andere Wahl hat, als die Hamas mit Gewalt zu zerschlagen, muss es auch andere Instrumente – Diplomatie, humanitäre Hilfe, wirtschaftliche Möglichkeiten – nutzen, um die nächsten Schritte zu gestalten.

"Etwas Neues aufzubauen, ohne vorbereitet zu sein, brachte nur Chaos."

Zweitens: Auch wenn sich Israels Militäraktion noch im Anfangsstadium befindet, müssen die politischen Entscheidungsträger mit der Planung für die Verwaltung des Gazastreifens nach dem Ende der Hamas beginnen. Die USA wurden auf dem falschen Fuß erwischt, nachdem sie die alte Ordnung im Irak und in Libyen zerschlagen hatten; etwas Neues aufzubauen, ohne vorbereitet zu sein, brachte nur Chaos.

Israel muss sich jetzt auf den Tag nach dem Ende der Kampfhandlungen vorbereiten. Wird es sich an die Palästinensische Autonomiebehörde wenden, um den Gazastreifen zu verwalten? Welche Rolle wird die Uno spielen? Wäre es nicht sinnvoller, eine Koalition der Willigen – wie die USA, die Europäische Union, Ägypten und Katar – zusammenzustellen, um den Wiederaufbau und die Verwaltung zumindest in der Anfangsphase zu überwachen? Jetzt ist es an der Zeit, sich mit diesen Fragen zu befassen.

Radikalismus und Extremismus

Drittens sollte Israel, selbst wenn es einen robusten militärischen Feldzug gegen die Hamas führt, den Schaden an der physischen und institutionellen Infrastruktur des Gazastreifens so gering wie möglich halten. Andernfalls riskiert es, die verbleibende Bevölkerung zu lang anhaltendem Leid oder sogar zum gesellschaftlichen Zusammenbruch zu verurteilen.

Die USA haben in unkluger Weise die irakischen Regierungsinstitutionen zerschlagen und damit die Voraussetzungen für Chaos, einen anhaltenden sunnitischen Aufstand und wachsenden iranischen Einfluss geschaffen. Trotz der hässlichen Ergebnisse in Irak zerstörte die Nato die politischen Grundlagen Libyens, was zu einem gescheiterten Staat führte, der von extremistischen Gruppen ausgenutzt wird und unter ethnischen Spaltungen leidet. Wenn Israel einen Großteil des Gazastreifens dem Erdboden gleichmacht, werden Radikalismus und gewalttätiger Extremismus wahrscheinlich aus den Trümmern auferstehen.

Langfristig denken

Schließlich muss Israel langfristig denken und sich vor Augen halten, dass die USA noch immer unter dem dauerhaften Schaden ihrer strategischen Fehler im Nahen Osten leiden. Der Sturz der irakischen Regierung hat den Iran gestärkt, der nun mächtige Stellvertreter in der gesamten Region hat, darunter die Hamas. Und Afghanistan hat sich nach dem Rückzug der USA in einen humanitären Albtraum verwandelt.

Darüber hinaus hat sich das Ansehen der Vereinigten Staaten nicht von den Bildern der Misshandlung von Gefangenen in Abu Ghraib, den Berichten über die brutalen Verhörmethoden der CIA, der unbefristeten Inhaftierung von Gefangenen in Guantánamo Bay auf Kuba und den zahlreichen Drohnenangriffen, die im Jemen unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten das Leben gekostet haben, erholt. Diese und andere Praktiken haben das Ansehen des Landes in der Weltöffentlichkeit nachhaltig beschädigt.

Harter Kampf

Auch Israel kämpft einen harten Kampf um sein Ansehen. Auch wenn das Land ein Recht auf Selbstverteidigung hat und die Tötungen und Entführungen durch die Hamas einen gewaltsamen Gegenschlag rechtfertigen, sollten die Israelis alles in ihrer Macht Stehende tun, um das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Das bedeutet, dass die Zahl der zivilen Opfer so gering wie möglich gehalten werden muss, während gleichzeitig ein kontinuierlicher Fluss von Medikamenten, Nahrungsmitteln und Treibstoff in den Gazastreifen gewährleistet sein muss.

Eine solche Zurückhaltung wird die weitverbreitete politische Wut besänftigen, die Israels anhaltende Militäraktion gegen die Hamas zweifellos hervorrufen wird. Sie wird auch die Wahrscheinlichkeit verringern, dass sich der Konflikt zu einem regionalen Krieg ausweitet; sie wird die Aufrechterhaltung des Abraham-Abkommens erleichtern, mit dem diplomatische Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan aufgenommen wurden; und sie wird es schließlich Israel und Saudi-Arabien ermöglichen, die Gespräche über eine Normalisierung der diplomatischen Beziehung wieder aufzunehmen.

Unhaltbarer Status quo

Das Verhalten Israels im Gaza-Krieg wird auch die künftigen Beziehungen zur palästinensischen Gemeinschaft bestimmen. Der abscheuliche Angriff der Hamas und die neue Runde der Gewalt, die er ausgelöst hat, haben gezeigt, dass der Status quo unhaltbar ist. Da sie Seite an Seite leben, werden die Israelis niemals sicher sein, wenn die Palästinenser nicht sicher sind, und umgekehrt. Letztlich werden die beiden Völker zusammenarbeiten müssen, um eine Zweistaatenlösung zu finden, die dauerhaften Frieden bringt. Vielleicht kann die Tragödie des gegenwärtigen Konflikts Israelis und Palästinensern gleichermaßen diese Realität vor Augen führen. (Charles A. Kupchan, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 5.11.2023)