Der Krieg ist in den Nahen Osten zurückgekehrt. Einen Monat nach dem brutalen Amoklauf der Hamas-Miliz geht die militärische Vergeltung Israels mit einer verstärkten Bodenoffensive im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen weiter. Es handelt sich hier auch um eine geopolitische Krise, die in ihren globalen Auswirkungen möglicherweise noch tiefgreifender und weitreichender ist als der Krieg in der Ukraine.

Die unmittelbarsten Folgen werden im Nahen Osten zu spüren sein. Jahrelang hat sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu Illusionen hingegeben, die nun zerschlagen wurden. Die größte war die Erwartung, Israel könne seine Beziehungen zur arabischen Welt normalisieren, ohne sich mit der Palästinafrage zu befassen, von der er zu glauben schien, man könne sie einfach wegwünschen. Jetzt ist diese Frage nicht mehr zu ignorieren. Unabhängig vom Ausgang seiner Offensive im Gazastreifen wird Israel ernsthaft in sich gehen und seine Strategie für den festgefahrenen Nahost-Friedensprozess völlig neu überdenken müssen. Saudi-Arabien, das kurz davorstand, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren, wird nun wahrscheinlich einige Zugeständnisse an die Palästinenser verlangen.

Gaza Israel
Palästinenser flüchten mit ein paar Habseligkeiten aus ihren Häusern in Gaza-Stadt.
Foto: Reuters / Stringer

Israel hat ein unwiderlegbares Recht auf Selbstverteidigung. Aber es besteht die Gefahr, dass Netanjahu den Krieg in die Länge zieht oder eine regionale Eskalation fördert. Da sich seine nominellen Verbündeten am Golf abwartend verhalten, hofft Netanjahu möglicherweise, die von ihm bevorzugte geopolitische Konstellation wiederherstellen zu können: Israel und die sunnitisch-arabischen Staaten stehen der iranischen "Achse des Widerstands" gegenüber, während die Palästinenser einmal mehr nur eine Nebenrolle in einer viel umfassenderen Konfrontation spielen.

Der Konflikt wird auch über den Nahen Osten hinaus schwerwiegende Folgen haben, und die Ukraine wird einer der größten Verlierer sein. Die Gewalt und das Leid, das die Menschen in diesem Land ertragen müssen, erscheinen nicht mehr so außergewöhnlich wie früher. Die Bilder aus dem Gazastreifen sind ebenso erschütternd wie die aus Charkiw oder Mariupol. Und der Krieg in Gaza lässt die Ukraine für viele wie einen "lokalen" europäischen Konflikt aussehen.

Große Verwerfungen

Da das Überleben der Ukraine von der weiteren Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft abhängt, ist alles, was von ihrem Kampf ablenkt, eine schlechte Nachricht. Sollte der Krieg zwischen Israel und der Hamas eskalieren und der Iran ins Geschehen eingreifen, könnten die Auswirkungen auf die Ölpreise es dem Westen weiter erschweren, seine Sanktionen gegen russische Energieträger aufrechtzuerhalten.

Für Europa insgesamt stellt die Krise im Gazastreifen eine Reihe von Herausforderungen dar. Zunächst einmal hat sie in Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich tiefe gesellschaftliche Verwerfungen offenbart. Gleichzeitig hat der Krieg zwischen Israel und der Hamas die Spaltung zwischen den anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verstärkt. Nach der russischen Invasion in der Ukraine im vergangenen Jahr zeigten die europäischen Länder große Einigkeit. Doch nun sind die Staats- und Regierungschefs der EU in Bezug auf die Ukraine, Bergkarabach und Gaza gespalten.

Angesichts der chaotischen Reaktion der EU ist die energische Reaktion Chinas umso bemerkenswerter. Im Gegensatz zu seinen Bemühungen, nach der russischen Invasion in der Ukraine neutral zu bleiben, hat China schnell seine Unterstützung für die Palästinenser zum Ausdruck gebracht. Chinas Reaktion ist Teil seiner Bemühungen um den Globalen Süden. Die Entscheidung für eine Seite könnte jedoch für China zu Komplikationen führen. Am offensichtlichsten ist, dass eine breitere regionale Konfrontation den zerbrechlichen Frieden stören könnte, den China zwischen Iran und Saudi-Arabien vermitteln konnte.

Politische Lösung

Für die Vereinigten Staaten ist es zu einem Klischee geworden, ihre Erfahrungen im Nahen Osten mit einer Zeile aus dem dritten Teil von Der Pate zu beschreiben: "Gerade als ich dachte, ich wäre raus, ziehen sie mich wieder rein!" Das gilt heute umso mehr, als die Regierung von US-Präsident Joe Biden mit weitaus mehr Disziplin und Entschlossenheit als seine beiden Vorgänger Barack Obama und Donald Trump eine außenpolitische Neuausrichtung vom Nahen Osten hin zu Asien vorantreibt. Nun steht die Region wieder ganz oben auf der Agenda.

Bisher hat Biden ein gutes Gleichgewicht zwischen der Unterstützung Israels und der Aufforderung an die Israelis gefunden, in ihrer Reaktion auf die Angriffe der Hamas mehr Zurückhaltung zu üben. Seine Entscheidung, die Unterstützung für die Ukraine mit der für Israel in einem nationalen Sicherheitspaket zu verbinden, bietet die Chance, den Widerstand der Republikaner gegen die Unterstützung der Ukraine zu überwinden. Dennoch wandelt Biden auf einem schmalen Grat. Schon die Ukraine war eine unwillkommene Ablenkung von Amerikas oberster Priorität: dem strategischen Wettbewerb mit China. Insofern ist ein größeres Engagement im Nahen Osten das Letzte, was die USA gebrauchen können.

"Der Konflikt muss so schnell wie möglich beendet werden."

Niemand – vielleicht mit Ausnahme von Hamas und Netanjahu – hat ein Interesse daran, den aktuellen Konflikt in Gaza zu verlängern oder auszuweiten. Man hofft, dass die relevanten Akteure ihre gemeinsamen Interessen erkennen und zusammen daran arbeiten, sie voranzubringen. Dies bedeutet vor allem, dass der Konflikt so schnell wie möglich beendet werden muss. Und das bedeutet, sobald der militärische Flügel der Hamas zerschlagen und die israelischen Geiseln freigelassen sind, auf eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu drängen. Anders kann die Sicherheit Israels langfristig nicht gewährleistet werden. (Mark Leonard, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 11.11.2023)