Wie kann es bei 339.000 beim Arbeitsmarktservice (AMS) vorgemerkten Arbeitslosen und Schulungsteilnehmenden einen Arbeitskräftemangel geben? Das fragt nicht nur der unternehmerische Ärger. "Strukturelles Mismatch" nennt das dann der arbeitsmarktpolitische Sachverstand. Und was sagt die gesellschaftspolitische Vernunft? Eine neue kulturelle Arbeitslosigkeit schiebt sich über die klassischen Formen der Arbeitslosigkeit und wird zusehends zur Herausforderung für Wohlstand und Zusammenhalt.

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Fachkräfte werden dringend gesucht. Das Ministerium listet bereits 98 bundesweite Mangelberufe auf.
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Konjunkturell bedingt steigt die Arbeitslosigkeit gerade. Einige Paradoxien am Arbeitsmarkt sind aber seit längerem zu beobachten.

· Die Baumärkte im Land werden stark frequentiert von enthusiastischen Heimwerkerinnen und Heimwerkern. Die Mangelberufsverordnung des Arbeitsministers allerdings umfasst bereits 98 bundesweite Mangelberufe, überwiegend in Handwerk, Gewerbe und Technik wie auch in der Pflege. Viele junge Menschen wollen angeblich nur mehr sinnvolle Arbeit akzeptieren – Stichwort New Work. Gleichzeitig finden sich viel zu wenige junge Leute, die Pflege- und Lehrkräfte, Polizisten, Justizwachebeamtinnen, Klimatechniker, Dachdeckerinnen, Maurerinnen, Fußpfleger oder Lokführerinnen werden wollen.

· Nur 8,5 Prozent aller Arbeitslosen über 50 Jahren nehmen derzeit AMS-Qualifizierungsangebote in Anspruch. Im Alter zwischen 25 und 49 Jahren liegt der Anteil bei 20,7 Prozent.

· Die Fluktuationsraten am Arbeitsmarkt steigen signifikant: Im Jahr 2022 registrierte man 20 Prozent weniger Arbeitslose als im Jahr davor, jedoch um zehn Prozent mehr amtlich beschiedene Sperren des Leistungsbezugs wegen freiwilliger oder selbstverschuldeter Lösungen von Beschäftigungsverhältnissen. 2023 ist das Niveau bisher ähnlich hoch.

Soziale Bedeutung

Zweifellos erleben wir gerade einen kritischen geschichtlichen Moment unserer spätmodernen Arbeitsgesellschaft: Der Pensionsabgang der Babyboomer wirkt am Arbeitsmarkt wie eine Effilierschere, die speziell die mittleren und die gemeinwohlträchtigen Berufsbereiche ausdünnt. Und die New-Work-Arbeitszurückhaltung der Jüngeren verstärkt diese Wirkung: Vor allem im Frontoffice der Gesellschaft, wo der direkte Kontakt mit Kundinnen und Kunden die Hauptrolle spielt, raubt uns der anschwellende Personalmangel zusehends den Schlaf.

Kulturell bedeutsam wird eine Formation der Arbeitslosigkeit dann, wenn sich hinreichend vielen Menschen die finanzielle und die überragende soziale und emotionale Bedeutung von Arbeit, die sie insbesondere in demokratischen Rechtsstaaten besitzt, nicht mehr erschließt – und wenn der Sozialstaat bereits strukturell Verhaltensentscheidungen fördert, (temporär) gut auf Arbeit verzichten zu können. Immer mehr Menschen nutzen die Arbeitslosenversicherung nicht mehr als solidarisches Sicherheitsnetz, sondern als persönlichen Pausenraum zwischen Episoden von Beschäftigung oder auch als Warteraum vor der Pension.

Was gerade dazukommt: Künstliche Intelligenz wie ChatGPT und andere Anwendungen degradieren viele unserem bildungsbürgerlichen Nachwuchs noch Geld und Ansehen verheißende Jobs im Handumdrehen zu Bullshitjobs und besiegeln ihren Abbau.

Summe der Bedürfnisse

Kulturell werden Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel dann, wenn viel zu wenige Arbeitskräfte das beruflich Richtige im Sinne des Nachgefragten erlernen und ausüben wollen. In einigen Berufsbereichen, so in der Gastronomie oder im Baugewerbe, sind wir schon an dem Punkt, wo die Summe unserer Bedürfnisse unsere Bereitschaft, sie mittels Arbeitsleistung zu erfüllen, deutlich übersteigt.

Das in seinen moralischen und sozialtechnischen Grundprinzipien heute noch maßgebliche Arbeitslosenversicherungsgesetz wurde im Jahr 1949 beschlossen. Eine von der Regierung geplante gesetzliche Arbeitsmarktreform ist ausgeblieben. Gleichsam als Ersatz dafür ergingen per Juli 2023 zwei Erlässe des Arbeitsministers an das AMS: der eine gegen die Verfestigung der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig geringfügig beschäftigten Personen, der andere für die Erhöhung der Wirksamkeit der AMS-Sanktionen bei Verweigerung oder Vereitelungen von Arbeitsaufnahmen oder Schulungen.

So richtig deren Zwecke sind, ein kniffliger bürokratischer Mehraufwand kommt damit auf die Arbeitsmarktbehörden zu. Sie werden ihn gewohnt professionell bewältigen. Einen Kulturwandel in der neuen Einstellung vieler zur Arbeit werden sie nicht bewirken können. Bleiben also vorerst die Appelle zur Erinnerung von Jung und Alt an die sinnstiftende Kraft der sozialen Pflichterfüllung durch Arbeit? Da wir uns die Welt der Pflichtbefreiten als eine unglückliche Welt vorstellen müssen, könnten sie sogar einige Wirkung zeitigen. (Georg Grund-Groiss, 18.11.2023)