Die Bilanz fällt hart aus: Die Interessenvertretung der Ärztinnen und Ärzte würde sich gegen Reformen wie die Einführung von Primärversorgungseinheiten oder auch gegen flexible Arbeitszeitmodelle zur Wehr setzen, schreibt die STANDARD-Chefredakteurin Petra Stuiber in einem Kommentar ("Der Machtverlust der Ärztekammer ist überfällig").

Die Vorwürfe überraschen vor allem deshalb, weil sich der Großteil widerlegen lässt. Die Ärztekammer forciert beispielsweise seit langem proaktiv neue Primärversorgungseinheiten und feierte erst vor wenigen Monaten mit der Eröffnung der ersten Kinder-Primärversorgungseinheit in Wien einen großen Erfolg. Darüber hinaus gehört die Schaffung von neuen Arbeitszeitmodellen zu den Kernanliegen der Ärzteschaft – im niedergelassenen Bereich genauso wie bei den Spitalsärzten. Ich selbst betreibe meine Ordination als Allgemeinmedizinerin in Wien-Floridsdorf im Jobsharing-Modell und werbe seit langem für neue Wege der Arbeitsteilung. Woher kommt also der Vorwurf der angeblichen Reformunwilligkeit?

Stethoskop zum Abhören des Brustkorbs, Diagnosewerkzeug von Ärztinnen und Ärzten
Stethoskop zum Abhören des Brustkorbs, Diagnosewerkzeug von Ärztinnen und Ärzten.
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Die Ärztekammer tritt mit ihren Forderungen gegenüber der Politik traditionell laut und vehement auf; darin unterscheidet sie sich erst einmal wenig von anderen Interessenvertretungen wie der Wirtschafts- oder der Arbeiterkammer. Anders als bei den Akteuren der Sozialpartnerschaft legt man uns ein gewisses Maß an Widerspenstigkeit jedoch gern als grundsätzliche Verweigerungshaltung aus. Dabei macht sich die Ärztekammer seit jeher für weitreichende Veränderungen im Gesundheitssystem stark. Sehr wohl aber wohnt der Ärzteschaft eine doppelte Vorsicht gegenüber politischen Reformbestrebungen inne, denn wir tragen eine doppelte Verantwortung.

Freier Zugang

Als freier Berufsstand vertritt die Ärzteschaft nicht nur die Anliegen ihrer Berufsgruppe, sondern auch die damit in Zusammenhang stehenden Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Wo die Rechtsanwaltschaft einen von staatlichen Eingriffen freien Zugang zum Recht ermöglicht, garantiert die Ärzteschaft einen von staatlichen Eingriffen freien Zugang zur Gesundheit. Was das konkret bedeutet, wird am Beispiel der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht deutlich. Diese schützt nicht etwa die Patientinnen und Patienten vor der Ärzteschaft, sondern die Bürgerinnen und Bürger vor dem Staat. Zu allen Zeiten soll sich ein Mensch mit seinen intimsten körperlichen und psychischen Leiden ohne das Wissen Dritter an einen Arzt wenden können. Erst das persönliche Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen und Patienten ermöglicht unsere medizinische Arbeit als Ärztinnen und Ärzte. Darum zählen wir den Schutz ihrer Interessen genauso zu unseren Aufgaben wie die Prävention und die Heilung von Krankheiten.

Breite Palette

In der Praxis sind die politischen Fragen, die das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten berühren, enorm vielfältig. Die Themenpalette reicht von der drohenden Aufweichung des medizinischen Datenschutzes im Zuge der Digitalisierung bis hin zur Unterwanderung des Gesundheitssystems durch ausländische Großinvestoren. Reformbestrebungen in diesen Bereichen werden von uns geprüft und im Zweifel auch vehement beeinsprucht. Will ich damit sagen, dass sich jegliche Kritik an der Ärztekammer verbietet und es an unserer Arbeit gar nichts zu verbessern gäbe? Mitnichten. Wie jede andere Organisation müssen auch wir uns regelmäßig fragen (lassen), ob wir die in uns gesetzten Erwartungen erfüllen und ob wir dabei auch unseren eigenen Zielen und Ansprüchen gerecht werden.

Wer jedoch einen grundsätzlichen Machtverlust der Ärzteschaft im Gesundheitssystem für "überfällig" hält, der muss die Frage beantworten, in wessen Händen er die Macht über das Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnis lieber sähe. In den Händen des Gesundheitsministers? In den Händen von internationalen Großkonzernen? Ich bin der Überzeugung, dass dies kein guter Weg wäre. Und ja, gegen derartige Bestrebungen stemmen wir uns – im Sinne der Patientinnen und Patienten – notfalls auch zum Schaden unserer eigenen Reputation. (Naghme Kamaleyan-Schmied, 5.12.2023)