Die drei Politiker bei einer Pressekonferenz, nach links blickend
Nach der Einigung im Budgetstreit im Dezember 2023: Kanzler Olaf Scholz (Mitte), Finanzminister Christian Lindner (rechts) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (rechts).
Foto: Reuters / Liesa Johannssen

Es gab eine Zeit, als Deutschland in vieler Augen nichts falsch machen konnte: Die Wirtschaft war stark, die Arbeitslosigkeit niedrig, und seine Strategie der Haushaltskonsolidierung erfolgreich. Ein breiter politischer Konsens sorgte für Stabilität, und die deutsche Gesellschaft wurde nicht von tiefen Spaltungen geplagt. Oder wie der Wahlkampfslogan von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2017 es formulierte: Deutschland war ein Land, "in dem wir gut und gerne leben".

Nur Wunschdenken

Heute erscheint Merkels inzwischen auch bei ihrer eigenen Partei in Vergessenheit geratener Slogan als Wunschdenken. Die vorherrschende Sicht ist, dass Deutschland nichts mehr richtig hinkriegt, oder zumindest nicht die wichtigen Dinge. Die Stimmung in der Bevölkerung ist abgespannt und pessimistisch: 46 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass es ihnen in zehn Jahren schlechter gehen wird. Ende 2022 blickten nur 28 Prozent dem Jahr 2023 hoffnungsfroh entgegen – die negativste Antwort seit 1951.

Sie hatten recht: 2023 erwies sich als schlechtes Jahr für Deutschland. Die Wirtschaft erlebte eine milde, aber hartnäckige Rezession, und die Aussichten für 2024 sind ähnlich düster. Eine schwere, seit langem ungelöste Haushaltskrise lähmt die Regierungen von Bund und Ländern, die drei Koalitionspartner sind hemmungslos zerstritten, und viele Reformvorhaben stocken oder wurden aufgegeben. Kein Wunder, dass "Krisenmodus" in Deutschland Wort des Jahres war.

13 Probleme

Die einflussreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung widmete Deutschlands größten Problemen – insgesamt dreizehn, davon viele hausgemacht – eine ganze Seite. Die Globalisierung verlangsamt und wandelt sich, und es tun sich kaum neue Märkte für deutsche Waren auf, was die auf den Export ausgerichtete Wirtschaft des Landes unter Druck setzt. Zudem sind die Investitionen zu niedrig, die Kapitalmärkte zu schwach, und eine virulente Technologiefeindlichkeit bremst die Digitalisierungsbemühungen.

Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Deutschland leidet zudem unter unzureichenden Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, Überregulierung, übertriebener Bürokratie und einem Mangel an Arbeitskräften. Die deutsche Gesellschaft muss eine Reihe von Herausforderungen bewältigen, darunter ein kaputtes Einwanderungssystem, teuren Wohnraum, mit die höchsten Energiepreise Europas und Schulen, die unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielen.

Resilient und innovativ

Im Gegensatz hierzu konnte die Zeitung nur drei ermutigende Signale erkennen: Deutschlands industrieller Kern dürfte von der künstlichen Intelligenz profitieren, der Pharmasektor ist dabei, zu alter Kraft zurückzufinden, und die enorm wichtigen mittelständischen Fertigungsunternehmen des Landes sind nach wie vor relativ resilient und innovativ.

Was ist hier verkehrt gelaufen? Die Covid-19-Pandemie, der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine (und die daraus resultierende Energiekrise), der steile Anstieg der Einwanderung und die Konflikte im Nahen Osten haben fraglos zur gegenwärtigen Lage beigetragen. Doch was noch wichtiger ist: Sie haben deutlich gemacht, wie schlecht Deutschland auf unerwartete Schocks und geopolitische Veränderungen vorbereitet ist.

Die "Last des Erfolgs"

Viele dieser Probleme schwären schon länger. Das reicht von wirtschaftlichen und energetischen Abhängigkeiten über veraltete Verwaltungssysteme bis hin zu die Innovation lähmenden Vorschriften. Doch die Führung des Landes entschied sich, diese Probleme zu ignorieren, und die Wählerinnen und Wähler spielten mit, überzeugt, dass sich alles irgendwie lösen würde.

Während der deutsche Abschwung viele Ursachen hat, ist eine der wichtigsten die häufig übersehene "Last des Erfolgs". Was für Unternehmen gilt, gilt auch für Länder: Eine gute Finanzleistung kann zu Selbstzufriedenheit führen. In Phasen starken Wirtschaftswachstums werden Regierungen übertrieben selbstsicher und lassen sich wandelnde Bedingungen außer Acht.

"Deutschland hat sich zu lange auf seinen Lorbeeren ausgeruht."

Diese Last wurde verschärft durch den hohen Wert, den die deutschen Wählerinnen und Wähler auf eine stabile politische Führung und die Bewahrung des Status quo legen. Merkel, die alles andere als eine politische Visionärin war, passte mit ihrer Politik der kleinen Schritte statt des Drängens auf dringend erforderliche Reformen wie angegossen zu Deutschland.

Die derzeit regierende Ampelkoalition wurde unter dem Banner "Mehr Fortschritt wagen" geschlossen. Doch Bundeskanzler Olaf Scholz ist weder ein Visionär noch ein effektiver Manager seiner konfliktbeladenen und Fauxpas-anfälligen Regierung.

Gemeinsamer Nenner

Es war für die Ampel praktisch unmöglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die SPD versorgt ihre alte und schrumpfende Basis mit Steuergeld; die Reformvision der Grünen steht immer weniger mit der öffentlichen Meinung im Einklang, und die FDP verweigert sich gebetsmühlenartig neuen Steuern, verlangt "Zurückhaltung bei den öffentlichen Ausgaben" und beharrt auf der Schuldenbremse, also der im Grundgesetz verankerten Begrenzung neuer Kreditaufnahmen. Wenn die Bilanz der Koalition während ihrer ersten beiden Jahre ein Hinweis auf Kommendes ist, sollten sich mehr Deutsche Sorgen über die Zukunft ihres Landes machen.

Es sieht ganz so aus, als würde Deutschland für seine Selbstgefälligkeit teuer bezahlen. Es hat sich zu lange auf seinen Lorbeeren ausgeruht und ist daher auf die Welt von heute schlecht vorbereitet, und das Versäumnis der Regierungskoalition, entschlossene Maßnahmen zu ergreifen, hat das Problem noch verschärft. Aus sozialer Sicht hat sich der breite Konsens, der die meisten Deutschen einte, abgeschwächt; Streiks und Demonstrationen werden häufiger.

"Alle drei Parteien müssen sich bewusst machen, dass sie ihre Chancen auf eine Wiederwahl gefährden, indem sie auf ihren jeweiligen Steckenpferden herumreiten, während das Land taumelt."

Zudem droht dem Land eine unsichere politische Zukunft. Die AfD kommt in Meinungsumfragen bundesweit auf über 20 Prozent, gegenüber zehn Prozent vor nicht einmal zwei Jahren, und dürfte bei den Landtagswahlen in mehreren Länderparlamenten stärkste Kraft werden. Tatsächlich wird die Ampelkoalition womöglich nicht bis zur nächsten Bundestagswahl überleben, die für Ende 2025 angesetzt ist. Falls die Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen lauter werden, könnte sich Scholz um eine Große Koalition mit der CDU unter Friedrich Merz bemühen.

Wenn die Ampel an der Macht bleiben und ihre traurige Bilanz verbessern will, muss Scholz besser mit den Wählerinnen und Wählern kommunizieren und die Politik seiner Regierung klarer und häufiger erklären. Und alle drei Parteien müssen sich bewusst machen, dass sie ihre Chancen auf eine Wiederwahl gefährden, indem sie auf ihren jeweiligen Steckenpferden herumreiten, während das Land taumelt.

Konsens suchen

Scholz’ Regierung sollte versuchen, einen Konsens bei drei wichtigen Themen zu erreichen: Sie sollte keine neuen Sozialprogramme einführen und die Erhöhung der Ausgaben für die aktuellen Programme auf die Inflationsrate beschränken; sie sollte die öffentliche Verwaltung modernisieren; und sie sollte einen flexibleren Ansatz in Bezug auf öffentliche Investitionen verfolgen, was eine Reform der Schuldenbremse erfordert. Diese Veränderungen mögen nicht gerade wagemutig sein, aber ohne sie kann es kaum Fortschritte geben. (Helmut K. Anheier, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 7.1.2024)