Der Gegensatz zwischen der französischen und der deutschen Volkswirtschaft schien selten so ausgeprägt wie heute. Während Frankreich weiterhin ein überraschend starkes Wachstum erlebt und für aus- und inländische Investoren zunehmend attraktiv ist, tut sich Deutschland schwer – auch wenn es alles andere als der kranke Mann Europas ist. Das liegt an einer schweren politischen Krise, die einen Schatten auf die wirtschaftlichen Aussichten wirft und schwer auf die wirtschaftliche Grundstimmung drückt.

Doch Deutschland und Frankreich sind voneinander abhängiger denn je. Um ihr Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, ihren Einfluss weltweit geltend zu machen und um die Europäische Union zu stärken, müssen sie zusammenarbeiten.

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Sollten ihren Kurs ändern: Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz.
Foto: AP/Markus Schreiber

Die französische Wirtschaft hat während der Covid-19-Pandemie und der Energiekrise 2022 eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit an den Tag gelegt. In den vergangenen beiden Jahren hat Frankreich seine Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, sein Wirtschaftsumfeld verbessert und mehr als doppelt so viel an ausländischen Direktinvestitionen angelockt wie Deutschland. Deutschland dagegen war gezwungen, sich auf hohe Subventionen zu stützen, um internationale Investoren anzulocken und seine eigene Industrie zu stützen.

Diese divergierenden Entwicklungen lassen sich auf drei Hauptfaktoren zurückführen. Erstens erlaubt es das französische Präsidialsystem Emmanuel Macron, klare Prioritäten zu setzen und neue Maßnahmen rasch umzusetzen. Dies hat ihn in die Lage versetzt, wichtige Reformen des Pensionssystems und Arbeitsmarkts zu verfolgen, das bestehende Regelwerk zu verschlanken und kühne industriepolitische Ziele festzulegen, die nun anfangen, beträchtliche Renditen zu bringen, darunter einen stetigen Rückgang der Arbeitslosigkeit.

Politischer Stillstand

Deutschland dagegen ringt mit dem Reformstau. Die Ampelkoalition aus Bundeskanzler Olaf Scholz’ SPD, Grünen und FDP ist im Scheitern begriffen. Tiefe ideologische Meinungsverschiedenheiten haben zu einem politischen Stillstand geführt, der das Land zu lähmen droht. Deutschlands komplexes, föderales System war darauf ausgelegt, seine demokratischen Prinzipien zu zementieren und einen Rückfall in den Autoritarismus zu verhindern. Insofern räumt es der Stabilität den Vorrang ein vor Geschwindigkeit und Flexibilität. Diese Präferenz fordert nun von der Wirtschaft ihren Tribut, da Deutschland dringend wichtige regulatorische, fiskalische, industrie- und handelspolitische Reformen braucht.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Ländern liegt in deren unterschiedlichen Ansätzen in Bezug auf die wirtschaftliche Öffnung. Deutschlands Wirtschaftsmodell der Nachkriegszeit stützte sich stark auf den Export, auf den inzwischen fast die Hälfte der Gesamtwirtschaftsleistung des Landes entfällt. Darüber hinaus begünstigte Deutschlands Wirtschafts- und Fiskalpolitik traditionell den industriellen Sektor – von Autos über Chemikalien bis hin zum Maschinenbau. Diese Fixierung hat die deutsche Politik dazu geführt, sich auf die Steigerung des Anteils des industriellen Sektors an der Wirtschaftsleistung zu konzentrieren, der derzeit fast doppelt so hoch ist wie der Frankreichs.

Trotz dieser Unterschiede haben die beiden Volkswirtschaften viel mehr gemein. Während sich Frankreich in den letzten vier Jahren wirtschaftlich besser entwickelt hat als Deutschland, ist es noch immer dabei, zu Deutschland aufzuschießen, das in den 2010er-Jahren einen bemerkenswerten Wirtschaftsaufschwung erlebte. Deutschland hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa, und seine Unternehmen haben sich ihre hohen globalen Marktanteile bewahrt.

Rechte Welle

Beide Länder verfügen über robuste Sozialsysteme, die dringend reformbedürftig sind. Angesichts der die soziale Polarisierung und politische Zwietracht befeuernden Inflation gewinnen rechtsextreme Bewegungen an Boden. Die Welle des Populismus und Rechtsextremismus, die viele westliche Demokratien überschwemmt, ist nun nach Deutschland unterwegs. Die rechtsextreme AfD ist auf Kurs, 2024 drei wichtige Landtagswahlen zu gewinnen; damit droht Deutschland eine noch tiefere Krise.

Und schließlich sind Deutschland und Frankreich beide durch die eskalierende Rivalität zwischen den USA und China bedroht. Um ihr Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, müssen sich beide Länder von ihrer national ausgerichteten Wirtschafts- und Fiskalpolitik verabschieden und zusammenarbeiten, um die EU zu reformieren und zu stärken. Die jüngste Reform des Stabilitäts- und Wirtschaftspakts reicht nicht aus, um Investitionen und die Transformation der europäischen Wirtschaft zu fördern.

Unnötige Konkurrenz

Allein fehlt es der französischen und der deutschen Wirtschaft jeweils an der notwendigen Größe, um in wichtigen neuen Sektoren wie künstlicher Intelligenz und digitalen Dienstleistungen im Wettbewerb mit den beiden weltgrößten Volkswirtschaften zu bestehen. Beide Regierungen wären daher gut beraten, sich auf ihre Gemeinsamkeiten zu konzentrieren statt auf ihre Unterschiede. Statt miteinander zu konkurrieren, sollten sie sich der gemeinsamen Sache willen zusammentun. Schließlich ist der Wohlstand, den Frankreich und Deutschland heute genießen, weitgehend auf ihre enge Partnerschaft während der letzten 70 Jahre zurückzuführen, die eine wichtige Rolle dabei gespielt hat, Europas wirtschaftliche Interessen zu fördern.

Angesichts des starken Widerstands aus Deutschland scheint Macron seine Ambitionen zu einer Reform Europas aufgegeben zu haben. Dies ist ein Fehler. Beide Regierungen sollten ihren Kurs ändern und den EU-Binnenmarkt stärken, die Bankenunion zum Abschluss bringen, eine Kapitalmarktunion verfolgen, eine gemeinsame Industriepolitik entwickeln und Regulierung und Bürokratie verschlanken. Und nicht zuletzt ist eine gemeinsame fiskalische Handlungsfähigkeit unverzichtbar, um eine Wirtschafts- und Industriepolitik zu konzipieren, die die europäischen Werte und Ziele verkörpert. (Marcel Fratzscher, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 12.1.2024)