Kenneth Rogoff, Harvard-Professor für Volkswirtschaft und Public Policy, schreibt in seinem Gastkommentar über die Ausgangslage der Weltwirtschaft und darüber, wie sie sich heuer entwickeln könnte.

Die Weltwirtschaft hielt 2023 eine Menge Überraschungen parat. Trotz des steilen Zinsanstiegs vermieden die USA erfolgreich eine Rezession, und die wichtigen Schwellenmärkte gerieten nicht in eine Schuldenkrise. Selbst Japans geriatrische Wirtschaft legte eine verblüffende Vitalität an den Tag. Die Europäische Union dagegen geriet ins Hintertreffen, als ihr deutscher Wachstumsmotor angesichts des abrupten Endes von vier Jahrzehnten chinesischen Hyperwachstums ins Stottern geriet.

Frachter Container Ladung Wirtschaft
Der 400 Meter lange Containerfrachter Al Nefud auf dem Weg zum Hamburger Hafen.
Foto: Imago / Markus Tischler

Mit Blick auf das Jahr 2024 stellen sich einige wichtige Fragen. Was passiert bei den langfristigen inflationsbereinigten Zinssätzen? Kann China angesichts der Turbulenzen in seinem Immobiliensektor und der starken Verschuldung seiner Kommunen einen drastischeren Abschwung vermeiden? Kann die Bank von Japan (BOJ), nachdem sie die Zinssätze zwei Jahrzehnte lang in Nullnähe gehalten hat, eine Zinsnormalisierung herbeiführen, ohne systemische Finanz- und Schuldenkrisen auszulösen? Werden die verzögerten Auswirkungen der von der US-Notenbank eingeleiteten Zinserhöhungen die USA letztlich in die Rezession treiben? Können die Schwellenmärkte ein weiteres Jahr lang Stabilität wahren? Und was schließlich wird sich als nächste große Quelle geopolitischer Instabilität erweisen? Eine chinesische Blockade Taiwans, ein Wahlsieg von Ex-Präsident Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November oder ein unvorhergesehenes Ereignis?

Die Antworten auf diese Fragen hängen miteinander zusammen. Eine Rezession in den USA könnte zu einem deutlichen Rückgang der globalen Zinsen führen. Aber das würde womöglich nur vorübergehend Abhilfe schaffen, da mehrere Faktoren – darunter die außerordentlich hohen Schuldenstände, die schleichende Entglobalisierung, zunehmender Populismus, der Zwang zur Ausweitung der Verteidigungsausgaben und die ökologische Wende – die langfristigen Zinssätze im kommenden Jahrzehnt deutlich über dem ultraniedrigen Niveau der Zeit zwischen 2012 und 2021 halten dürften.

"Chinas Plan scheint darin zu bestehen, die Schmerzen breiter zu verteilen."

Derweil steht die chinesische Führung bei ihren beträchtlichen Bemühungen, wieder ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent zu erzielen, vor gewaltigen Herausforderungen. Zunächst einmal ist schwer erkennbar, wie Chinas Technologie-Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben können, wenn die Regierung unternehmerisches Handeln weiterhin erstickt. Zudem beschränkt Chinas 2023 auf 83 Prozent gestiegene Schuldenquote – verglichen mit 40 Prozent im Jahr 2014 – die Regierung in ihrer Fähigkeit, unbefristete Rettungsmaßnahmen zu verfolgen. Da sich die hohen Schulden der Kommunen und die Überschuldung des Immobiliensektors ohne Unterstützung der Regierung nicht bewältigen lassen, scheint Chinas sich abzeichnender Plan darin zu bestehen, die Schmerzen breiter zu verteilen, indem die Regierung den Provinzen nationale Gelder zuteilt, die Banken zur Kreditvergabe unter Marktzinsen an insolvente Unternehmen zwingt und schließlich die Kreditaufnahme der Kommunen beschränkt.

Doch wird es schwierig, die chinesische Wirtschaftsleistung zu steigern und zugleich die Vergabe neuer Kredite zu beschränken. Obwohl China bereits den Schwenk weg von Immobilien und hin zu umweltfreundlichen Energieträgern und (zum Leidwesen der deutschen und japanischen Automobilhersteller) zu Elektrofahrzeugen vollzieht, entfallen noch immer über 30 Prozent des chinesischen BIPs auf Immobilien und Infrastruktur, was die direkten und indirekten Auswirkungen dieser Sektoren unterstreicht.

Weiche Landung

Während Japan vergangenes Jahr ein robustes Wirtschaftswachstum aufrechterhalten hat, erwartet der Internationale Währungsfonds für 2024 eine Abschwächung der japanischen Konjunktur. Doch hängt Japans Fähigkeit, eine weiche Landung zu erreichen, letztlich davon ab, wie die BOJ die unvermeidliche, aber riskante Abkehr von ihrer Politik ultraniedriger Zinsen handhabt.

Da der Yen seit Anfang 2021 trotz steil gestiegener Inflation in den USA unverändert fast 40 Prozent niedriger notiert als der Dollar, kann es sich die BOJ nicht leisten, diese Umstellung noch weiter zu verzögern. Während die japanischen Entscheider in der Hoffnung, dass ein Rückgang der weltweiten Zinsen dem Yen Auftrieb verleiht und ihre Probleme löst, womöglich lieber untätig bleiben würden, ist dies keine nachhaltige langfristige Strategie. Wahrscheinlicher ist, dass die BOJ die Zinsen erhöhen muss; andernfalls dürfte die lange schlummernde Inflation zu steigen beginnen, was das Finanzsystem und die japanische Regierung angesichts der gegenwärtigen Schuldenquote des Landes von über 250 Prozent schwer unter Druck setzen würde.

Expansive Haushaltspolitik

Obwohl die US-Wirtschaft entgegen den Erwartungen der meisten Ökonomen 2023 nicht in die Rezession gerutscht ist, dürfte die Rezessionswahrscheinlichkeit weiterhin bei rund 30 Prozent liegen, verglichen mit 15 Prozent in normalen Jahren. Die Regierung von Präsident Joe Biden verfolgt ungeachtet der unvorhersehbaren langfristigen Auswirkungen von Zinsschwankungen weiterhin eine expansive Haushaltspolitik. Trotz Vollbeschäftigung liegt der Anteil des Defizits am BIP derzeit bei sechs Prozent – oder sieben Prozent, wenn man Bidens Programm zum Erlass von Studentenkrediten einrechnet. Selbst ein gespaltener Kongress dürfte die Ausgaben in einem Wahljahr kaum senken. Die hochgradig kumulative Inflation der letzten drei Jahre lief faktisch auf einen zehnprozentigen Zahlungsausfall auf Staatsanleihen hinaus – ein einmaliges Ereignis, das sich ohne schwerwiegende Folgen so bald nicht wiederholen lässt.

Von Spannungen profitiert

Die Schwellenmärkte haben es inmitten des außergewöhnlichen Zusammentreffens wirtschaftlicher und politischer Erschütterungen 2023 geschafft, eine Krise abzuwenden. Während dies weitgehend darauf zurückzuführen ist, dass die politischen Entscheider relativ orthodoxe makroökonomische Strategien verfolgt haben, haben einige Länder von den sich verschärfenden geopolitischen Spannungen profitiert. Indien etwa hat den Krieg in der Ukraine genutzt, um sich enorme Mengen an verbilligtem russischen Öl zu sichern, und die Türkei hat sich zu einem wichtigen Kanal für den Transport sanktionsbelegter europäischer Waren nach Russland entwickelt.

Angesichts wachsender geopolitischer Spannungen und von Meinungsumfragen, die nahelegen, dass Trump gegenwärtig Favorit auf den Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen ist, dürfte sich 2024 als weiteres turbulentes Jahr für die Weltwirtschaft erweisen. Dies gilt insbesondere für die Schwellenmärkte, aber seien Sie nicht überrascht, wenn sich 2024 als steiniges Jahr für uns alle erweist. (Kenneth Rogoff, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 10.1.2024)