Was hat der neue ORF-Beitrag von allen mit einem Beinbruch beim Skifahren gemein oder auch einem Aufenhalt in einem öffentlichen Park? Medienwissenschafter Matthias Karmasin (Akademie der Wissenschaften, Uni Klagenfurt) erklärt mit solchen plastischen Beispielen, warum öffentlich-rechtlicher Rundfunk von allen zu finanzieren ist.

ORF-Auge vor ORF-Zentrum
ORF-Auge, sei wachsam: Warum sollen alle für öffentlich-rechtlichen Rundfunk zahlen?
Harald Fidler

1. Ist der ORF-Beitrag doch ein Beinbruch?

Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, dass GIS-Ausnahmen für Streamingnutzer der Verfassung widersprechen, ist seit Jahresbeginn ein ORF-Beitrag von allen fällig. 15,30 Euro im Monat, 50 Cent pro Tag für alle für dieses große Angebot in TV, Radio und Online – das sei doch gleichsam kein Beinbruch, rechnet der ORF gerne vor.

Auf der Seite vor allem der neu Beitragspflichtigen wirft das recht häufig die Frage auf: Warum soll ich für etwas zahlen, was ich nicht nutze? Auch wenn völlige Nichtnutzung von "ZiB" bis ORF On, von "Vorstadtweibern", "Biestern" und "Tatort" bis Ö3 und FM und Ö1 gar nicht so leicht sein dürfte.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk sei ein öffentliches Gut, eine öffentliche Dienstleistung im Sinne des Gemeinwohls, hält Karmasin dem entgegen, der Medienökonom spricht lieber von einem "quasi öffentlichen Gut". Solche öffentliche Güter seien "unabhängig von der konkreten Nutzung von der Allgemeinheit zu finanzieren".

Entscheidend sei hier nicht die Nutzung, sondern "die Möglichkeit der Nutzung" – wie bei öffentlichen Parks, bei Schulen, Straßen, Opern, Theatern und der Gesundheitsversorgung. Niemand, der Sozialversicherung bezahlt, komme auf die Idee: "Jetzt brech ich mir beim Skifahren einen Haxen, damit ich auf meine Kosten komme" mit der Gesundheitsversorgung, die man ja mitfinanziert. Und auch wenn Karmasin sehr selten öffentliche Parks nutzt, ist er sehr dafür, dass es sie, auch von seinen Steuern und Abgaben mitfinanziert, gibt.

Der Verfassungsgerichtshof habe in seiner GIS-Entscheidung auch festgehalten, dass von der Finanzierung des öffentlichen Rundfunks "nicht wesentliche Teile der potenziellen Nutzer und Nutzerinnen ausgenommen werden können".

2. Wozu ORF? Die Theorie

Warum brauchen wir öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Mit der Frage eröffnete Medienwissenschafter Karmasin Freitag eine Reihe von "Impulsen" des Presseclubs Concordia für eine ORF-Reform. Der Verfassungsgerichtshof verlangt weniger regierungsnahe ORF-Gremien, Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) will sich mit einer Reform Zeit lassen. Karmasin indes ist für rasche Änderung – nicht allein der ORF-Gremien, sondern auch des Programmauftrags.

Auf die große grundsätzliche Frage, wozu es öffentlich-rechtlichen Rundfunk braucht, hat Medienwissenschafter Karmasin Antworten aus unterschiedlichen Einflugschneisen.

3. Was tun?

In der sehr speziellen österreichischen Medienlandschaft – hoch konzentriert, kleiner Werbemarkt, geringe Bezahlbereitschaft, großer gleichsprachiger Markt Deutschland nebenan, hoher Anteil öffentlicher Finanzierung – ist für Karmasin eines "unbestritten: Dass der ORF eine starke Position in einer dualen, eigentlich trialen Medienlandschaft braucht". Dual meint: Öffentlich-rechtliche und private Medien nebeneinander, trial bezieht nichtkommerzielle Private wie Community-Sender ein.

"Die Politik muss in liberalen Demokratien vor der ihr inhärenten Versuchung geschützt werden, in Medien einzugreifen."

Auf die vom Verfassungsgerichtshof verlangte Reform für weniger Regierungsnähe der Gremien hofft Karmasin ehestmöglich. Denn: "Die Politik muss in liberalen Demokratien vor der ihr inhärenten Versuchung geschützt werden, in Medien einzugreifen." Das gelte gesamthaft, aber insbesondere für den öffentlich-rechtlichen, öffentlich kontrollierten Rundfunk: "Die Politik muss auch vor der Versuchung geschützt werden, im ORF parteiliche Interessen zu vertreten."

"Widerständiger, qualitätsorientierter ORF"

"Freiheit des Journalismus und meinungsplurale liberale Demokratie" definiert er als grundlegende Ziele von Medienpolitik. Nachsatz: "Das sind Werte, die sich in der österreichischen politischen Landschaft leider nicht mehr von selbst verstehen." Aber, so Karmasin: "Die Idee eines trialen Mediensystems und einer liberalen Demokratie bedingt und verlangt einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der widerständig, unabhängig, glaubwürdig und qualitätsorientiert ist."

Für den ORF-Publikumsrat, in den Karmasin seit 2014 die Akademie der Wissenschaften entsendet, empfiehlt der Wissenschafter Entscheidungskompetenzen in Programmfragen – und eine breite Vertretung von Stakeholdern. Dass der Kanzler oder die Medienministerin eine Mehrheit in diesem Publikumsrat bestimmt, hat schon der Verfassungsgerichtshof moniert und Teile der Gremienregeln im ORF-Gesetz aufgehoben.

Medienwissenschafter Matthias Karmasin im Presseclub Concordia
"Man kann schon froh sein, wenn es nicht schlechter wird": Medienwissenschafter Matthias Karmasin über die Medienpolitik.
Presseclub Concordia Mathias Zojer

Eine weitere ORF-Novelle dürfe aber "nicht in einer Gremienreform stecken bleiben und muss auch den Programmauftrag in den Blick nehmen", sagt Karmasin. Der Versuch einer detaillierten umfassenden Aufzählung aller Aufgaben des ORF im aktuellen Gesetz hält er in einer sich schnell ändernden Medienwelt für problematisch. Der Auftrag solle "Richtungen vorgeben", erklärt Karmasin auf STANDARD-Nachfrage, welche Kompetenzen der ORF etwa fördern soll. Als Beispiele nennt er "Demokratiekompetenz, Wissenschaftskompetenz, Medienkompetenz", aber auch als Ziele Selbstreflexion, Partizipation durch Interaktion mit dem Publikum.

"Man kann bei der Lage der Dinge schon froh sein, wenn es nicht schlechter wird."

Eine weitere ORF-Reform dürfe aber keine isolierte medienpolitische Maßnahme sein: Die Medienpolitik müsse dabei die gesamte Medienlandschaft, "das gesamte triale System im Blick haben, im Sinne einer möglichst qualitätsvollen Öffentlichkeit".

Eine "sinnvolle" Gremienreform im ORF wäre "ein erster, wesentlicher Schritt", sagt Karmasin. "Wird dadurch alles besser? Ich fürchte nein. Aber: Man kann bei der Lage der Dinge schon froh sein, wenn es nicht schlechter wird." (fid, 12.1.2024)