Straßenschild mit Pfeilen nach links (Brüssel/Straßburg) und rechts (Wien)
Politische Karrieren gibt es in Wien genauso wie in Brüssel und Straßburg.
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Kürzlich – noch vor der möglichen Kandidatur von Lena Schilling für die Grünen – wurde im STANDARD ausgeführt, warum es angeblich so schwer sei, Kandidatinnen und Kandidaten fürs EU-Parlament zu finden (siehe "Warum es so schwierig ist, Kandidaten fürs EU-Parlament zu finden"). Die dabei vorgebrachten Argumente – insbesondere vom Politikerklärbär der Nation Peter Filzmaier – halten jedoch der empirischen Überprüfung nicht stand. Der Wechsel nach Straßburg und Brüssel stellt schon lange keine politische Einbahnstraße mehr dar, das Europaparlament entpuppt sich stattdessen zunehmend als Drehtür und Sprungbrett für spätere nationale Politkarrieren.

Bis heute wird das Europäische Parlament nach wie vor vielfach als eine Institution wahrgenommen, die wenig Einfluss und Gestaltungskraft hätte. Der tatsächlichen institutionellen Weiterentwicklung trägt diese Einschätzung nicht Rechnung, die Europawahl wird noch immer gerne als "Wahl zweiter Ordnung" tituliert. Ein Mandat im Europäischen Parlament scheint daher, aus dieser Perspektive betrachtet, wenig Chancen für einen Aufstieg in exekutive nationale Funktionen zu bieten. Damit einher geht auch immer noch die weitverbreitete Vorstellung, dass Mandate im Europaparlament vor allem als "Versorgungsposten" für Politikerinnen und Politiker dienen oder als "Abfindung" zum Ende einer langen politischen Karriere genutzt werden. Diese Zeiten sind jedoch seit langem vorbei.

Kein "Ausgedinge"

Wechselten in den Anfangsjahren tatsächlich noch ehemalige Minister nach Straßburg (Hilde Hawlicek 1995, Harald Ettl 1996 und Ernst Strasser 2009), kam es bereits 2007 zum erstmaligen Karrieresprung in die andere Richtung: Die bisherige Europaabgeordnete Maria Berger wurde SPÖ-Justizministerin in Wien. Jörg Leichtfried, immerhin seit 2004 Europaabgeordneter der SPÖ, wechselte 2015 als Landesrat in die Steiermark und wurde im Folgejahr Verkehrsminister in der Bundesregierung. Die ÖVP-Abgeordnete Elisabeth Köstinger wechselte 2017 aus dem Europaparlament zuerst als Nationalratspräsidentin nach Wien, um in der Folge Mitglied der Bundesregierung (Ressort Landwirtschaft, später Nachhaltigkeit und Tourismus) zu werden. Ulrike Lunacek legte 2017 gar ihr Amt als Vizepräsidentin des Europaparlaments zurück, um als Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der vorgezogenen Nationalratswahl in Österreich zu kandidieren. 2020 wurde sie immerhin noch als Kurzzeit-Kulturstaatssekretärin berufen.

Erst jüngst wechselte Simone Schmiedtbauer nach vier Jahren im Europaparlament im Herbst 2023 als ÖVP-Landesrätin in die steirische Landesregierung. Und die EP-Spitzenkandidatur von Werner Kogler im Jahr 2019 legte den Grundstein für die politische Wiedergeburt und die darauf folgende Regierungsbeteiligung der Grünen. Angesichts dieser Beispiele lässt sich die von Filzmaier gemachte Einschätzung, das Europaparlament sei ein "politisches Ausgedinge", wahrlich nicht aufrechterhalten.

"Noch nie war der Frauenanteil so hoch."

Das über viele Jahre vorherrschende Klischee "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa" entspricht schon lange nicht mehr den Tatsachen. Noch nie waren etwa Österreichs Europaabgeordnete so jung wie zu Beginn der laufenden Gesetzgebungsperiode – das Durchschnittsalter ist 47 –, noch nie war der Frauenanteil so hoch – im EU-Parlament lebt man das Prinzip 50:50 tatsächlich.

Was wir im Europaparlament hingegen wirklich sehen, ist eine Normalisierung und Angleichung an die politischen Verhältnisse und Entwicklungen anderer EU-Mitgliedsstaaten: Ein Mandat im Europaparlament wird zunehmend zu einem normalen Bestandteil einer nationalen Politkarriere. Man wechselt zwischen nationalen Funktionen und Straßburg und Brüssel. Die anfängliche Einbahnstraße ist längst zur Karrierestraße in beiden Richtungen geworden. (Stefan Brocza, 23.1.2024)