Ein gemeinsames militärisches Hauptquartier von sechs europäischen Staaten gibt es mit Eurokorps ins Straßburg bereits – eine EU-Armee allerdings nicht. Könnte sie noch kommen?
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"Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr." Dieses fast schon zum geflügelten Wort avancierte Zitat stammt von einem, der für die Volkspartei nicht ganz unwichtig war und ist: Wolfgang Schüssel. Der ÖVP-Chef von 1995 bis 2007, Bundeskanzler von 2000 bis 2007, davor fünf Jahre Außenminister der Republik, äußerte diese Worte einst anlässlich seiner Rede zum Nationalfeiertag. Das war 2001.

Gut 22 Jahre später hat sich einiges geändert. Der Kanzler kommt zwar von derselben Partei und heißt Karl Nehammer. Von der Neutralität als "alter Schablone", die nicht mehr greift, würde unter den heutigen Türkisen aber niemand mehr sprechen. Zumindest nicht öffentlich. Ganz im Gegenteil: Als nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine wieder die Frage ins Zentrum rückte, ob die Neutralität die kleine Alpenrepublik im Ernstfall vor einer russischen Aggression schützen würde, beendete der Kanzler die Diskussion darüber, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

EU-Armee "wird es nicht geben"

Passend zu dieser Linie erteilte die ÖVP-Spitze mehrfach deutliche Absagen an eine etwaige gemeinsame EU-Armee. Schon kurz nach Beginn von Russlands Angriffskrieg sagte Nehammer im STANDARD-Interview: "Was es nicht geben wird, ist eine EU-Armee." Erst vergangenen Sommer wurde Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) kaum weniger deutlich: Es sei viel wichtiger, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben, statt "diffuse Konzepte" einer EU-Armee zu verfolgen, die "nicht einmal ausgearbeitet oder Gegenstand der aktuellen Diskussionen auf EU-Ebene sind". Österreichische Soldatinnen und Soldaten würden in einer etwaigen EU-Armee "jedenfalls nicht zum Einsatz kommen", sagte sie dem STANDARD.

Allerdings: Im geltenden ÖVP-Parteiprogramm steht im Absatz zur Rolle der EU wörtlich Folgendes: Eine zentrale Zukunftsfrage stelle "die Weiterentwicklung hin zu einer Verteidigungsunion mit dem langfristigen Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee dar". Spielt das eigene Parteiprogramm, das 2015 präsentiert wurde, für die Spitze der ÖVP also keine Rolle mehr?

Vision versus politische Realität

Das Programm sei inzwischen knapp neun Jahre alt, heißt es dazu auf STANDARD-Nachfrage aus dem Kanzlerbüro. Natürlich habe es seither zahlreiche politische Entwicklungen, auch auf internationaler Ebene, gegeben. Grundsätzlich würden in Parteiprogrammen politische Visionen formuliert. Abgeglichen werden müssten diese aber im Laufe der Zeit mit politischen Realitäten – die nicht nur von Österreich selbst abhingen.

Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sei in der aktuellen Weltlage aber zentraler denn je. Sie werde auch intensiv verfolgt, wie etwa die Beteiligung am gemeinsamen europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield inklusive gemeinsamer Beschaffung zeige. Die Frage einer EU-Armee sei nur einer von vielen Aspekten gemeinsamer europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Karas schrieb mit

Ein weiterer Hintergrund der Diskrepanz zwischen aktuellen Aussagen der ÖVP-Spitze und ihrem Parteiprogramm: An dem knapp 50 Seiten starken Druckwerk schrieb etwa auch noch der scheidende Erste Vizepräsident des EU-Parlaments und langjährige Leiter der ÖVP-Delegation, Othmar Karas, mit. Er hatte sich innerhalb seiner Partei stets als besonders glühender Proeuropäer positioniert – und lag in den vergangenen Jahren bei zentralen politischen Themen in Opposition zur türkisen Parteilinie. Im Herbst kündigte Karas an, nicht mehr für das EU-Parlament zu kandidieren, weil er den Stil seiner Partei nicht mehr mittragen könne.

In den Jahren nach Erscheinen des Parteiprogramms klangen übrigens auch die Aussagen anderer ÖVP-Spitzenfunktionäre noch völlig anders als heute. "Es kann keine Frage sein, ob eine politische Union auch außen- und sicherheitspolitisch eng kooperieren muss", sagte der damalige ÖVP-Generalsekretär Werner Amon etwa 2017. "Zu Ende gedacht, bedeutet das auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik und damit eine EU-Armee."

Lopatka sieht Nato als Fundament

Und wie sieht der neue EU-Spitzenkandidat der ÖVP, Reinhold Lopatka – der übrigens auch selbst am Parteiprogramm von 2015 mitwirkte und darauf drängte, die EU-Armee als Zielsetzung hineinzuschreiben –, heute das Thema? "Fakt ist, dass die EU vor einem Jahr eine neue Vereinbarung mit der Nato abgeschlossen hat", sagt er im STANDARD-Gespräch. Darin werde im Wesentlichen festgelegt, dass die Nato die "Grundlage kollektiver Verteidigung" der europäischen Verteidigungspolitik sei und Europa darin mehr Anstrengungen unternehmen wird als bisher.

Weil 23 der 27 EU-Staaten auch Nato-Mitglieder sind, stelle sich die Frage einer Art parallelen Kommandostruktur innerhalb der EU ohnehin nicht. "Ich glaube kaum, dass Frankreich oder Deutschland Interesse an einer Zweiteilung der Nato hätten", sagt er. "Das Dach ist die Nato." Österreich sei zudem über die "Partnerschaft für den Frieden" auch als neutraler Staat mit der Nato verbunden, habe zu Nato-Missionen mit 20.000 heimischen Soldaten im Einsatz beigetragen, und werde durch die EU-Beistandspflicht von Nato-Mitgliedern geschützt.

Neos klar für EU-Armee, FPÖ strikt dagegen

Bei der er am 9. Juni stattfindenden EU-Wahl dürfte Sicherheitspolitik anlässlich des Kriegs in der Ukraine, der Bedrohung Europas durch Russland und der neuen Eskalation in Nahost jedenfalls eine gewichtige Rolle spielen. Im Wahlkampf werden die Kandidatinnen und Kandidaten also zu einer möglichen EU-Armee befragt werden – selbst wenn eine solche mangels außen- und sicherheitspolitischer Einigkeit unter den EU-Mitglieder zumindest aktuell eher nur kleine Chancen auf Umsetzung hat. Wie sehen die anderen Parteien das Thema eigentlich?

SPÖ-Chef Andreas Babler fiel vor einigen Jahren noch mit besonders kritischen Positionen zur EU und zum Bundesheer auf. So bezeichnete er die Europäische Union noch 2020 als "aggressivstes außenpolitisches militärische Bündnis, das es je gegeben hat" und "schlimmer als die Nato". 2011 kokettierte er gar mit der Abschaffung des Bundesheers. Inzwischen will Babler über eine EU-Armee diskutieren, wie er im Interview verriet. Eine glasklare Position gegen ein eigenes EU-Heer hat indessen die FPÖ, die auch Österreichs militärische Neutralität durch derartige Bestrebungen gefährdet sieht.

Die Grünen wollen zwar "prinzipiell mehr Europa", auch bei der Verteidigung. Für eine aktive EU-Armee im klassischen Sinne müssten aber vorab viele Fragen geklärt werden, sagt Wehrsprecher David Stögmüller dem STANDARD: "Wer schafft da an, wer übernimmt da die Führung?" Die klarste Position pro EU-Armee kommt von den Neos, die eine solche schon seit Jahren explizit einfordern. Weder Österreich allein noch die Neutralität allein könne die heimische Bevölkerung beschützen. "Der beste Weg zu einem wehrhaften und sicheren Österreich ist ein wehrhaftes Europa", sagt der außenpolitische Sprecher und Spitzenkandidat der Neos für die EU-Wahl, Helmut Brandstätter. Er wolle eine "neue Ehrlichkeit" in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen. (Martin Tschiderer, 1.2.2024)