Offenkundig gibt es nur weniges, das die Aufmerksamkeit einer politisch interessierten Öffentlichkeit mehr erregt als die meist aus verschiedenfärbigen Kristallkugeln bezogenen Antworten auf die Frage, ob Herr Kickl unser nächster Bundeskanzler wird. Für die einen ist dies mehr als gewiss, andere wiederum schließen es kategorisch aus – und nimmt man die Halbwertszeit der auf der politischen Bühne verlautbarten Versprechungen, so bleibt fürs Publikum nur die Erkenntnis: Wie’s wird, das werden wir schon sehen ... Nichts Genaues weiß man nicht.

FPÖ Parlament Kickl Präsident Nationalrat
Vielleicht bald Nationalratspräsident? Sollte die FPÖ nach der kommenden Wahl die stärkste Fraktion im Parlament sein, stünde ihr dieses Amt nach bisheriger Usance zu.
Foto: APA/EVA MANHART

Nun sind die Warnungen vor einer mit dem Namen Herbert Kickl verbundenen illiberalen Demokratie, in die wir unverzüglich verfallen würden, wenn dieser Herr – wie man so schön sagt – "die Macht erobert", meist nur moralisierende Versatzstücke aus dem Fundus unzureichender Verfassungskenntnis: Eine Regierung kann gewiss vieles, bis auf weiteres scheint sie aber durch die in Österreich doch recht solide aufgestellten Institutionen in ihrer Wirkmöglichkeit limitiert. Allein, wenn wir die Antragsbefugnisse der parlamentarischen Opposition und die Prüfkompetenzen des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) nehmen, so scheint eine rapide Umgestaltung der auf Gesetzlichkeit und Grundrechtsverbürgung abzielenden parlamentarischen Demokratie wenig wahrscheinlich.

Mehr als ein Zeremonienmeister

Vielleicht sollten wir, wenn wir durch die Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung der FPÖ schon um den Schlaf gebracht sind, unsere damit geöffneten Augen vom Amt des Bundeskanzlers weg hin auf das Amt des Präsidenten des Nationalrates schweifen lassen: Der Präsident des Nationalrates wird von den Abgeordneten gewählt; sehr viel mehr sagt uns die Verfassung nicht. Den jahrzehntelangen Usancen folgend steht dieses Amt immer einer Person zu, die von der "stärksten Fraktion" nominiert wird – Herr Sobotka ist ja nicht wegen seiner einschlägigen Befähigung der derzeitige Präsident, sondern weil er von der ÖVP (der derzeit stärksten Nationalratsfraktion) dazu "bestimmt" wurde. So die Auguren recht behalten, wird ab Herbst des Jahres die FPÖ die stimmenstärkste Fraktion im Nationalrat sein – und damit stünde ihr (wenn man von einer fortgesetzten Geltung der bisherigen Konventionalregel ausgeht) auch das Amt des Nationalratspräsidenten zu.

Für viele ist der Präsident des Nationalrats bloß ein Zeremonienmeister. Tatsächlich ist er aber eine überaus wichtige Person, und er könnte – "worst case thinking" – diese Republik schneller und entschlossener wandeln, als dies einem Bundeskanzler möglich wäre: Unsere Verfassung bestimmt, dass der Nationalrat aus seiner Mitte den Präsidenten, den zweiten und den dritten Präsidenten wählt. Mit diesem Amt ist eine Vielzahl von Kompetenzen verbunden: Der Präsident ist Chef der Parlamentsdirektion, wählt autonom das entsprechende Personal aus, weist den Klubs Bedienstete der Parlamentsdirektion zu, erlässt Verordnungen, die das Parlament betreffen et cetera. Ist der Bundespräsident verhindert, kommt dem Präsidenten des Nationalrats der Vorsitz im Kollegium zu, das an die Stelle des Bundespräsidenten tritt – und er übernimmt dessen Vertretung in der Öffentlichkeit.

Eldorado an Machtfülle

Eine Kontrolle des Nationalratspräsidenten gibt es de facto nicht; er genießt (wie alle anderen Abgeordneten auch) Immunität. Der Präsident des Nationalrates schwebt kontrollfrei über den Geschehnissen, die er durch sein Wirken realisiert.

Die Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes über den Präsidenten des Nationalrates sind dürftig beziehungsweise rudimentär. Das wahre Eldorado der ihm eingeräumten Machtfülle findet sich in der Geschäftsordnung des Nationalrates – zwar ebenfalls ein Gesetz, das nur mit Zweidrittelmehrheit abgeändert werden kann, das sich aber, mehr noch als andere Gesetze der Republik, der Kenntnis der Bürgerinnen und Bürger gänzlich entzieht. Selbst viele Abgeordnete sind über Jahre hinweg nicht in der Lage, sich den für ihr Handeln maßgeblichen Rechtsstoff völlig anzueignen.

Ein Charakteristikum dieser Geschäftsordnung ist es, dass dem Präsidenten die sogenannte Präsidiale (korrekt: "Präsidialkonferenz") als beratendes Organ beigeordnet ist – wohlgemerkt nur als ein aus den Obleuten der Klubs bestehendes Organ, das den Präsidenten zu beraten hat, was wiederum nichts anderes heißt, als dass der Präsident letztlich entscheiden kann, so wie er will – und das betrifft cum grano salis den gesamten Parlamentsbetrieb: von der Erlassung der Haus- bis hin zur Redeordnung, von der Festlegung der Debatten und der Fragestunden bis hin zum Budget. Insbesondere kann der Nationalratspräsident jedem Abgeordneten auch das Wort entziehen. "Wenn der Präsident einen Redner unterbricht, hat dieser sofort innezuhalten, widrigenfalls ihm das Wort entzogen werden kann" (Paragraf 104 in der Geschäftsordnung des Nationalrats). Der Präsident, so heißt es wunderschön, "handhabt die Geschäftsordnung", und er "wacht darüber, daß die Würde und die Rechte des Nationalrates gewahrt werden" – und deshalb kommt ihm auch der Vorsitz in den Untersuchungsausschüssen zu.

Glaubwürdiger Widerstand

Bringen wir’s auf eine für alle verständliche Formel: Wer sich gegen Kickl als Bundeskanzler ausspricht (und das sind derzeit alle Parteien mit Ausnahme der SPÖ Burgenland), der ist nur dann glaubwürdig, wenn er auch verspricht, Herrn Kickl nicht zum Präsidenten des Nationalrats zu wählen – denn dort könnte jemand wie Herr Kickl, wenn denn die allenthalben mit seiner Person verbundenen Warnungen Berechtigung haben, sehr viel mehr Schaden anrichten denn als bloß leitendes Vollzugsorgan vulgo Bundeskanzler. Wer dieses Versprechen vor den Wahlen nicht abgibt, dem ist es mit dem Widerstand gegen Kickl und Konsorten nicht wirklich ernst. (Alfred J. Noll, 14.2.2024)