Cherizier bei einer Pressekonferenz
Bandenchef mit Polit-Ambitionen? Jimmy "Barbecue" Chérizier.
Foto: Reuters / Ralph Tedy

So, wie die Dinge derzeit in Haiti ablaufen, könnten die gewalttätigen Banden nicht nur eine offizielle staatliche Rolle erhalten, sondern sogar selbst die Regierung übernehmen. Das Land zeigt all die bekannten Merkmale eines gescheiterten Staates. Seine Bevölkerung steht vor der tragischen Wahl zwischen der Herrschaft einer korrupten "demokratischen" Elite und der Herrschaft sich selbst als "progressiv" darstellender Banden.

Angesichts des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung hat das karibische Staatenbündnis Caricom eine Übereinkunft zur Einrichtung eines Übergangsrats angekündigt, der ein breites Spektrum der politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen Haitis repräsentieren soll. Dieser würde einige Befugnisse ausüben, die normalerweise dem (vakanten) Amt des Präsidenten zugeordnet sind, darunter die Befugnis zur Ernennung eines Übergangspremiers. Von der so geschaffenen Regierung würde erwartet, dass sie früher oder später Wahlen abhält, wodurch ein vollständiger politischer Neustart erreicht würde.

"Keine friedliche Revolution"

Aber wen werden diese neuen Vereinbarungen miteinschließen? In Haiti herrscht Ausnahmezustand, nachdem bewaffnete Gruppen Anfang des Monats das größte Gefängnis des Landes attackierten, Polizei- und Gefängnispersonal töteten und fast 4.000 Insassen die Flucht ermöglichten. Bandenchef Jimmy "Barbecue" Chérizier – selbst ehemaliger Polizist – hat die Verantwortung dafür übernommen und zum Sturz der Regierung aufgerufen. Inzwischen kontrollieren die Banden 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince und halten den wichtigsten Flughafen des Landes besetzt.

Die Caricom-Übereinkunft schließt alle vorbestraften oder anderweitig sanktionierten Personen aus, also auch Chérizier. Doch ist längst bekannt, dass Chérizier politische Aspirationen hat. Er ist kein bloßer Bandenchef, sondern zugleich ein populistischer Politiker, der 2019 gegenüber einem Reporter äußerte: "Ich würde nie Leute aus meiner eigenen sozialen Schicht abschlachten." In diesem Monat erklärte er: "Wir werden den Leuten nicht vorlügen, dass wir eine friedliche Revolution haben. Wir haben keine friedliche Revolution. Wir beginnen eine blutige Revolution im Land."

Lange Tragödie

Haitis Geschichte ist eine lange Tragödie. Seit mehr als 200 Jahren wird es für den erfolgreichen Sklavenaufstand bestraft, aus dem es als erste schwarze Republik der Welt hervorging. Zur Zahlung von Reparationen an seine ehemalige Kolonialmacht Frankreich gezwungen, hatte es nur ein einziges Mal die Chance, Wohlstand zu erlangen. Das war, als Jean-Bertrand Aristide vor zwei Jahrzehnten die Macht übernahm. Doch Aristide – der den USA ein Dorn im Auge war – wurde 2004 durch einen Putsch gestürzt.

Haiti ist ein Extrembeispiel für ein umfassenderes Phänomen. Gewalttätige Banden haben auch in Ecuador und Mexiko Stadtteile besetzt. Und dann ist da natürlich die Bande von Anhängerinnen und Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, die am 6. Jänner 2021 das Kapitol in Washington stürmte. Inzwischen verspricht Trump, dass im Falle seiner Wiederwahl eine seiner ersten offiziellen Amtshandlungen darin bestehen werde, alle für ihre Beteiligung an diesem Angriff verurteilten Personen zu begnadigen.

In den USA

Die stärkste der Banden, die den Aufstand vom 6. Jänner organisierten, sind die Proud Boys, eine ausschließlich männliche, neofaschistische Organisation, die offen politische Gewalt propagiert und ausübt. Man erinnere sich an Trumps infame Reaktion, als man ihn 2020 bei einer Debatte auf seine Attraktivität für weiße Suprematisten und paramilitärische Gruppen ansprach: "Proud Boys, haltet euch zurück und haltet euch bereit."

Trump 2020 in einer Präsidentschaftsdebatte bei USA Today.

Gescheiterte Staaten sind heute nicht länger auf einige wenige Ecken des Globalen Südens beschränkt. Wenn wir das Scheitern eines Staates an den Rissen in seinem Machtgebäude bemessen – den Hinweisen auf aufziehende ideologische Bürgerkriege, den gelähmten Parlamenten und zunehmend unsicheren öffentlichen Räumen – müssen wir anerkennen, dass auch Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA eindeutig diesem Spektrum zuzuordnen sind. Der norwegische Politologe Jon Elster hatte recht, als er 2020 schrieb: "Wir können das gängige Diktum umkehren, dass die Demokratie in Gefahr ist, und bekräftigen, dass die Demokratie selbst die Gefahr ist, zumindest in ihrer kurzfristig angelegten populistischen Form." Jüngste Erfahrungen geben Hinweise darauf, was passieren wird, falls Trump die Wahl im November gewinnt.

"Und Gott wendet sich weinend ab."

Man kann hier einen alten DDR-Witz paraphrasieren: Wladimir Putin, Xi Jinping und Trump erhalten eine Audienz bei Gott und dürfen ihm jeweils eine Frage stellen. Putin fängt an: "Sag mir: Was wird in den nächsten Jahrzehnten mit Russland passieren?" Gott antwortet: "Russland wird sich allmählich zu einer Kolonie Chinas entwickeln." Putin wendet sich weinend ab. Xi ist an der Reihe und stellt dieselbe Frage über China. Gott antwortet: "Da das chinesische Wirtschaftswunder vorbei ist, wirst du, um zu überleben, zur kompromisslosen Diktatur zurückkehren und zugleich Taiwan um Hilfe bitten müssen." Xi wendet sich weinend ab. Als Letzter ist Trump dran: "Und was wird das Schicksal der USA sein, nachdem ich wieder übernehme?" Und Gott wendet sich weinend ab. (Slavoj Žižek, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 21.3.2024)