Die systemischen Ursachen der Inflation müssen bekämpft werden, sagt der Ökonom Stephan Schulmeister im Gastkommentar. Es reiche nicht, ihre Folgen durch Einmalzahlungen zu mildern.

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Die Inflation steigt. Wer eine hohe Ausgabenquote hat, leidet besonders darunter.
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Noch im Sommer 2021 lag die Inflation unter drei Prozent, seither hat sie sich rasant beschleunigt. Derzeit liegt sie bei etwa zehn Prozent. Eine baldige Trendwende ist nicht in Sicht.

Immobilienpreise und Mieten sind schon lange wichtige Inflationstreiber. Dazu kommen seit 2020 die Preise für Erdöl, Erdgas und Kohle sowie sonstige Rohstoffe, insbesondere von Nahrungsmitteln, beides verstärkt durch Wladimir Putins Krieg in der Ukraine. Seither erhöhen immer mehr heimische Unternehmen ihre Preise noch stärker, als das ihrer Kostensteigerung entspricht – von Treibstoffen bis zu Milchprodukten.

So viel zur Entwicklung an der Oberfläche, aber welche systemischen Triebkräfte wirken darunter?

Beginnen wir mit den Preisen von Immobilien. Grund und Boden sind nicht vermehrbar, gleichzeitig stellt Wohnen ein unverzichtbares Grundbedürfnis dar. Die Folge: Mieten und Wohnungspreise steigen überdurchschnittlich, Immobilien wurden zu einem attraktiven Spekulationsobjekt, was wiederum ihre Verteuerung verstärkt. Die wichtigste Profitquelle besteht in der (erwarteten) Wertsteigerung.

"Entfesselte" Märkte

Auf den Finanzmärkten hatte sich die gleiche Logik schon seit ihrer "Entfesselung" in den 1970er-Jahren durchgesetzt: Bewertungsgewinne wurden zur wichtigsten Profitquelle, egal, ob durch langfristige Kursanstiege von Aktien oder Anleihen oder durch "schnelles" Trading mit Derivaten. Die Börsenwerte der Unternehmen boomten, ihr Realkapital nicht.

In den 1950er- und 1960er-Jahren war es umgekehrt gewesen: Bei regulierten Finanzmärkten konnte sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, die Investitionsdynamik ermöglichte stabiles Wachstum, Vollbeschäftigung und den Ausbau des Sozialstaates bei sinkender Staatsverschuldung. Gleichzeitig dämpfte das steigende Güterangebot den Preisauftrieb. Im "Realkapitalismus" stellt die Schaffung von Vermögen die wichtigste Profitquelle dar, im "Finanzkapitalismus" die Bewertungsänderungen bestehender Vermögen. Im ersten Fall dominieren die Interessen der Unternehmerinnen und Unternehmer, im zweiten Fall jene der "Rentiers", also der Besitzerinnen und Besitzer von Immobilien-, Finanz- oder Rohstoffvermögen.

"Giftiger" Schatz

Die Logik "Profit durch Verteuerung" bestimmt (daher) auch die jüngste "Explosion" der Preise fossiler Energie. Zur Vorgeschichte: Spätestens seit dem Klimaabkommen von Paris 2015 wurde den "Fossilrentiers" klar, dass ihr Geschäftsmodell in wenigen Jahrzehnten ausläuft. Ende 2019 brach ein Streit zwischen Russland und Saudi-Arabien über Förderquoten aus, die Saudis drehten "zur Strafe" den Ölhahn auf, und der Preis fiel bis April 2020 auf 18 US-Dollar per Barrel. Dieser Schock stärkt seither die Kooperation aller großen Ölproduzenten. Ihr Ziel: im Übergangszeitraum von 30 bis 40 Jahren den maximalen Profit aus ihrem "giftigen" Schatz herauszuholen.

Wegen seiner technologischen Rückständigkeit hat Russland daran das allergrößte Interesse. Dem diente auch die Eskalation des Konflikts mit der Ukraine: Bis Ende 2021 stiegen die Preise für Öl und Gas auf das Vierfache, Putins Krieg erhöhte sie weiter.

Strompreis als Vorwand

Seither nützen heimische Unternehmen die Unsicherheit, um ihre Produktpreise stärker zu erhöhen, als es ihrer Kostensteigerung entspricht, besonders unverfroren bei den Treibstoffpreisen. Auch die Preise von Strom aus Wasser, Sonne, Wind und Kernenergie stiegen enorm, obwohl ihre Kosten nahezu gleich blieben. Als Vorwand dienen die Preise an den Strombörsen ("Merit-Order").

Tatsächlich stellt der Börsenpreis nicht "den" Marktpreis für Strom dar (nur ein kleiner Teil des Handels wird über die Börse abgewickelt), überdies setzten Billigproduzenten von Strom ihre Angebotspreise hinauf und erhöhten so den Merit-Order-Preis (und ihre Profite). So konnten auch die "Stromrentiers" die Preis-Profit-Strategie erfolgreich praktizieren.

"Die 'Inflationsepidemie' steckt immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmer in Produktion und Handel an."

Besonders krass ist die Lage in Österreich: 80 Prozent des Strombedarfs erzeugen "unsere" Energieversorgungsunternehmen aus erneuerbaren Quellen. Sie verlangen von ihren (indirekten) Eigentümerinnen und Eigentümern, also von uns, ein Mehrfaches ihrer Kosten. Als "Entschädigung" dafür, dass sie bis zum Grundverbrauch von 2900 Kilowattstunden nur zehn Cents verrechnen dürfen, bekommen sie die Differenz auf ihren überhöhten Tarif vom Staat ersetzt. Diese 2,5 Milliarden Euro zahlen sich die "Begünstigten" als Steuerzahlende später selber.

Auch Extraprofite

Auch der Groß- und Einzelhandel folgt der Preis-Profit-Strategie: Der Anstieg der Energiekosten, aber auch bestimmter Rohstoffe wie Weizen wird zum Anlass genommen, immer mehr Waren stärker zu verteuern, als es den höheren Kosten entspricht. Besonders dreist wurden die Preise von Milch und Milchprodukten erhöht, nämlich um bis zu 50 Prozent (der Anteil der Energiekosten liegt unter fünf Prozent). Die "Inflationsepidemie" steckt nun immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmer in Produktion und Handel an, auch ihre Preise zu erhöhen.

Mit der Ausweitung der Preis-Profit-Strategie von den Vermögensmärkten auf die Gütermärkte ergibt sich eine in der Nachkriegszeit einzigartige Inflationsdynamik mit katastrophalen sozialen Folgen. Denn diese Strategie konzentriert sich genau auf die für das (Über-)Leben wichtigsten Bereiche: Wohnen, Strom, Gas, Treibstoffe und Nahrungsmittel. Genau wegen deren Unverzichtbarkeit lassen sich Extraprofite durch Preissteigerungen besonders leicht erzielen. Aus dem gleichen Grund trifft die Inflation Menschen umso härter, je geringer ihr Einkommen ist. Gleichzeitig "verstopfen" diese Verteilungswirkungen den Wirtschaftskreislauf: Menschen mit hoher Ausgabenquote (oft 100 Prozent) müssen einen wachsenden Teil ihres Einkommens an Immobilien-, Fossil-, Einzel- und Handelsrentiers abgeben, die ihre Extraprofite nur zu einem kleinen Teil wieder in den Kreislauf "einspeisen".

Ohnmächtig ausgeliefert

Noch nie in den letzten Jahrzehnten wurde eine so große Mehrheit von Menschen so massiv schlechter gestellt wie durch die gegenwärtige Inflation, und noch nie waren sie ihr so ohnmächtig ausgeliefert. Ihre systemischen Ursachen müssen bekämpft, nicht ihre Folgen durch Einmalzahlungen gemildert werden. Auch eine Symptomtherapie durch "Preisdeckel" reicht nicht. (Stephan Schulmeister, 23.10.2022)