Die EU muss wieder an politischer Handlungsfähigkeit gewinnen, sagt Wolfgang Petritsch, der Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und frühere Spitzendiplomat, im Gastkommentar.

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Wolodymyr Selenskyj warb vor dem US-Kongress für Unterstützung und rief Erinnerungen an den britischen Premier Winston Churchill wach.
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Der vorweihnachtliche Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Washington, D.C., markiert zweifellos eine entscheidende Weichenstellung – ein Churchill-Moment? – im Krieg Russlands gegen seinen slawischen Nachbarn. Das Treffen mit Präsident Joe Biden am 21. Dezember im Weißen Haus und mehr noch Selenskyjs beeindruckender Auftritt vor beiden Häusern des US-Kongresses scheinen Washingtons Versprechen, Kiew weiterhin finanziell und waffentechnisch aufzurüsten, deutlich gefestigt zu haben.

Tatsächlich erinnern Bidens Commitment – "as long as it takes" – und Selenskyjs Ablehnung seiner Evakuierung – "Ich brauche Waffen, keine Mitfahrgelegenheit" – an Premier Winston Churchills "We shall never surrender". Dennoch sind die Unterschiede bedeutsam und keineswegs als billige historische Parallele zu verstehen: Nazideutschland stand Mitte 1940 auf dem Höhepunkt seiner militärischen Machtausdehnung; Churchills Großbritannien nicht weit vom Abgrund. Kiew hingegen wurde wider Erwarten nicht erobert, Selenskyj hat sich binnen kurzem vom politischen Amateur zur charismatischen Leitfigur des ukrainischen Widerstands gewandelt.

Der britische Premier Winston Churchill galt als brillanter Redner. Hier seine Rede im US-Kongress 1941. Als seine wichtigste Rede gilt jene vor dem britischen Unterhaus 1940.
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2022 sagt Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem US-Kongress: "Danke für Ihre Hilfe. Ihr Geld ist kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eine Investition in die globale Sicherheit."
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"Für Wladimir Putin ist eine militärische Niederlage keine Option."

Trotz des Verlustes von mehr als 20 Prozent ihres Territoriums ist die Ukraine dank westlicher Waffenhilfe augenblicklich militärisch im Vorteil. Daher ist davon auszugehen, dass der Krieg und die weitere Zerstörung ziviler Infrastruktur an Europas östlicher Peripherie – wenige Hundert Kilometer von Wien entfernt – 2023 anhalten, ja sogar weiter eskalieren werden. Denn für Wladimir Putin ist eine militärische Niederlage keine Option. Erst vor kurzem hat der russische Präsident Selenskyjs taktisches Verhandlungsangebot abgelehnt. Außenminister Sergej Lawrow hat daraufhin Moskaus ursprüngliche Kriegsziele – Demilitarisierung und Entnazifizierung – kurzerhand wiederholt. Beide Seiten scheinen vorläufig überzeugt, eine militärische Entscheidung erzwingen zu können.

Nicht bloß Zahlmeister

Was aber bedeutet dies für Europa? Wie wird die EU mit dieser fortgesetzten Ausweitung des Krieges in ihrer Nachbarschaft – mit dem Tabubruch atomarer Drohung – umgehen? Und muss sich der Alte Kontinent angesichts der Rückkehr des Krieges neu erfinden? Bloß den Zahlmeister abzugeben kann nicht das Ziel der Europäischen Union sein.

Mit seinem Flug über den Atlantik hat Selenskyj klargestellt, dass es für ihn neben Washington derzeit kein anderes politisches Reiseziel gibt. Ein Stop-over in Brüssel schien ihm offenbar nicht nötig. Die EU wird für sein Land wohl erst für die Finanzierung des Wiederaufbaus wichtig werden. Bis dahin wird es noch länger dauern, ist zu befürchten. Damit aber werden die politischen und wirtschaftlichen Kosten ins Gigantische wachsen.

Die finanziellen kann der Westen stemmen. Was aber ist mit den politischen Kosten, wenn es darum gehen wird, ein völkerrechtskonformes Nachkriegsszenario für die Ukraine – und für Russland – auszuverhandeln?

Europas Chance

Die globalen Machtverschiebungen seit Beginn der Finanzkrise von 2008 setzen Europa und die USA seit längerem unter Druck, bei der Lösung globaler und zunehmend auch regionaler Probleme die eurasischen Großen China und Indien einzubinden. Das stellt das etablierte System der internationalen Beziehungen vor völlig neue Herausforderungen. Dass etwa die Vereinten Nationen die geeignete Plattform abgeben, den Krieg zu beenden, muss bezweifelt werden.

Darin mag auch eine Chance für Europa liegen. Der globalen Soft Power EU könnte im wohlverstandenen geopolitischen Eigeninteresse in der Beendigung des Kriegs eine gewichtige Rolle zukommen. Etwa mit der Präsentation eines europäischen Marshallplans. Eines Plans, der die Konfliktregion als Ganzes umfasst, unter expliziter Einladung an Russland. Gewiss, zurzeit nahezu unvorstellbar, aber gewiss nicht undurchführbar.

Zur Erinnerung: In die von den USA initiierte Neuordnung Europas wurde nach 1945 Deutschland ebenso einbezogen wie die europäischen Siegermächte. Heute aber geht es darum, die Fehler von 1989/91 nicht wieder zu begehen, als Russlands Wirtschaft katastrophale 40 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verlor. Moskaus frühe institutionelle Annäherungsversuche an den siegreichen Westen, das leichtfertige Misslingen einer europäischen Sicherheitsarchitektur sowie die Geringschätzung der russischen Sicherheitsbedürfnisse zum eigenen Nachteil haben diesen verbrecherischen Krieg zwar nicht verursacht, ihn jedoch über die Jahre plausibler erscheinen lassen; jedenfalls für Russlands Bevölkerung.

Militärische Absicherung

Putins verquerer historischer Revisionismus, das Scheitern demokratischer Modernisierung im postsowjetischen Russland; in Europa die Hinnahme der Krim-Annexion und der Glaube an die neoliberal grundierte These, demokratischen Wandel in autoritären Staaten durch wirtschaftlichen Austausch zu fördern – das sind Wegmarken zum gegenwärtigen Krieg.

Was kann Europas Antwort auf Russlands eklatanten Völkerrechtsbruch sein? Nicht einfach, aber voraussetzungslos: Die EU muss an politischer Handlungsfähigkeit gewinnen und einen entschiedenen Schritt Richtung europäische Staatlichkeit und strategische Selbstbehauptung wagen. Das soll keine Militarisierung des Friedensprojekts Europa bedeuten, wohl aber dessen Absicherung. Die EU hat dann eine Zukunft, wenn sie ihre eigenen demokratischen Werte auch verteidigt.

"Die EU in ihrer derzeitigen Verfassung läuft Gefahr, im geopolitischen Spiel der Großmächte zu einer bloßen geografischen Entität auf dem eurasischen Superkontinent zu verkommen."

Man muss es nüchtern betrachten: In diesem Konflikt, der weit über die militärische Aggression Russlands hinausgeht, steht nichts weniger als die Zukunft des europäischen Einigungsprojekts zur Disposition. Denn die EU in ihrer derzeitigen Verfassung läuft Gefahr, im geopolitischen Spiel der Großmächte zu einer bloßen geografischen Entität auf dem eurasischen Superkontinent zu verkommen. Diese europäische Dystopie wird uns von Russland gerade vorgeführt.

Nach dem doch ziemlich rasch gelungenen europäischen Schulterschluss gegen den Aggressor läuft die EU nach fast einem Jahr Krieg Gefahr, aus ihrem produktiven Schock in den üblichen Trott zurückzufallen. Ob Selenskyj in Washington tatsächlich seinen Churchill-Moment hatte, wird die Geschichte weisen. Europas Moment aber ist jetzt. (Wolfgang Petritsch, 1.1.2023)