Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer schreibt in seinem Gastkommentar darüber, wie sich die Weltordnung geändert hat – und er fragt sich, welche Rolle Russland dabei übernehmen wird.

Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch eine niemals zuvor gesehene Anhäufung großer und kleinerer Krisen: von Covid, über Energie, Inflation, Lieferketten bis hin zum Krieg in der Ukraine und der globalen Klimakrise.

Allein diese Tatsache spricht dafür, dass diese ungewöhnliche Krisenkumulation der Ausdruck des Entstehens einer neuen Weltordnung ist. Die alte bipolare Ordnung des 20. Jahrhunderts ist endgültig am Verschwinden, während wir zugleich die aufsteigende Dominanz einer globalen Pentarchie erleben, angeführt von den USA und China, den beiden absehbaren militärischen, technologischen und wirtschaftlichen Supermächten des 21. Jahrhunderts, sind dies weiterhin Europa, Japan, Indien und vielleicht Russland. (Anm. siehe dazu auch den Gastkommentar von Herfried Münkler, der zu den fünf großen Mächten die USA, China, Europa, Russland und Indien zählt.)

Was kommt, wenn Russland den Ukraine-Krieg verliert? Wird Russlands Präsident Wladimir Putin sich halten können?
Foto: IMAGO/ITAR-TASS

Hinter Russland verbleibt ein großes Fragezeichen, weil dessen zukünftiger Status vom Ausgang seines verantwortungslosen Angriffskrieges gegen die Ukraine abhängen wird. Die russische Niederlage ist zwar bereits heute absehbar, ja, ich meine, sogar gewiss, aber für einen Versuch, davon die Konsequenzen zu beschreiben, ist es immer noch viel zu früh. Wird im Falle einer Niederlage Putins Regime und die Oligarchie überdauern? Oder wird sie zu einer weiteren Phase der inneren Desintegration und des Zerfalls führen und Russland seinen alten Anspruch auf die Hegemonie in Osteuropa verlieren? Mit seiner Weltmachtrolle wäre es dann, trotz zahlreicher Nuklearwaffen, wohl vorbei, für Europa bliebe Russland als Sicherheitsrisiko und Problem allerdings als dessen östlicher Nachbar, präsent.

"Anders als die Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges hat China jedoch nicht den Fehler gemacht, sich nur und vor allem auf die militärische Rivalität mit den USA zu konzentrieren."

Die massive russische Nuklearrüstung wird für den Status einer Weltmacht im 21. Jahrhundert nicht mehr zureichend sein, zumal durch die globale Transformation weg von kohlenstoffbasierten Energieträgern (Erdöl, Erdgas, Kohle) die russische Wirtschaft entscheidend geschwächt werden wird. Russland, vorneweg Wladimir Putin, hält sowohl politisch als auch wirtschaftlich an der Vergangenheit, des 20. oder gar späten 19. Jahrhunderts, fest, und es ist gegenwärtig dabei, nicht nur die Ukraine zu zerstören, sondern am Ende sich selbst. Für Europa, mit dem das Land denselben Kontinent teilt, wird es daher für lange Zeit eine große Herausforderung bleiben.

Im Schatten der Weltfinanzkrise von 2008 und der mit der letzten Jahrtausendwende massiv einsetzenden Globalisierung ist China der Ausbruch aus der Armutsfalle und der Durchbruch zu seinem ernsthaften Anspruch als globaler Supermacht, neben den USA, gelungen. Anders als die Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges hat China jedoch nicht den Fehler gemacht, sich nur und vor allem auf die militärische Rivalität mit den USA zu konzentrieren. China setzte auf seine Integration in den von den USA und dem Westen dominierten Weltmarkt in Gestalt seiner Rolle als "verlängerte Werkbank" der globalen Wirtschaft und auf den technisch-wissenschaftlichen Wettbewerb mit dem Westen. Gewiss spielt auch der militärische Sektor eine wichtige Rolle, aber niemals in der Ausschließlichkeit wie im Falle der Sowjetunion. Im Gegensatz zu Putin, ist die chinesische Führung im 21. Jahrhundert angekommen, und darin besteht der große Unterschied zwischen den beiden Nationen.

Anlass zu Optimismus

Die Erklärung vom G20-Gipfel in Bali macht die Bedeutung dieses Unterschiedes offensichtlich, denn Russland sah sich dort zunehmend diplomatisch isoliert. Große Staaten, wie China und Indien, bisher in der Ukraine-Krise nicht auf westlicher Linie, gingen dort spürbar auf Distanz zu Russland, zu seiner Kriegspolitik und zu seinen nuklearen Drohungen. Sollte zudem das Gespräch zwischen dem US-amerikanischen und chinesischen Präsidenten zu einem Abbau der gegenseitigen Spannungen und zu einer Rückkehr zu mehr kooperativeren Beziehungen führen, so hätte dieser G20-Gipfel tatsächlich die Tür zur Neugestaltung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert geöffnet.

Das Treffen von Bali macht daher Hoffnung, zumal zur selben Zeit in den USA die Midterm-Elections nicht mit der angekündigten "roten Welle" – also mit einem Siegeslauf der Republikaner – endeten, sondern völlig unerwartet eher eine schmähliche Niederlage für Donald Trump bedeuteten.

Die diesen Wahlen zugrunde liegende Botschaft ist, dass die Mehrheit der US-Amerikaner keineswegs zurückwill zu der isolationistischen Politik von Trump. "Midterm" und Bali zusammengenommen geben Anlass zu Optimismus in unserer so krisengeschüttelten, düsteren Zeit, nämlich dass die beiden größten Krisen, die machtpolitische mit dem Krieg in der Ukraine und die globale Krise in Gestalt des Klimawandels doch gemeinsam gelöst werden können. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 2.12.2022)