Unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Regionen – das mag in manchen Bereichen möglich sein, allerdings nicht beim Klimaschutz oder bei der Regulierung des Arbeitslebens, sagt Politologe Lukas Haffert im Gastkommentar. Wie lässt sich der Stadt-Land-Graben überwinden? Lesen Sie auch den Gastkommentar "Umweltschutz im Untergangsmodus?" von Franz Essl, Ökologe und Wissenschafter des Jahres 2022.

Protest in der Stadt: Klimaschutzkleber.
Foto: APA / Florian Wieser

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land steht immer stärker im Zentrum der politischen Auseinandersetzung und prägt mittlerweile fast jede Wahl in Europa und Nordamerika. Ob Donald Trump oder Joe Biden, Emmanuel Macron oder Alexander Van der Bellen – sie alle kamen durch Wahlen mit einem enormen Stadt-Land-Gefälle ins Amt. Diese wachsenden Unterschiede im Wahlverhalten lassen sich mit unterschiedlichen Einstellungen zu vielen konkreten politischen Fragen, etwa in der Einwanderungs-, der Verkehrs-, der Umwelt- oder der Europapolitik, erklären. Städterinnen und Städter, so eine populäre Deutung, hätten mehrheitlich kosmopolitische, Menschen auf dem Land hingegen kommunitaristische Einstellungen.

Die Politik des "Mehr"

Hinter diesen Gegensätzen verbirgt sich bei konkreten politischen Themen aber noch ein anderer, tiefergehender Unterschied: Was ist die grundlegende Aufgabe der Politik? In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand sie vor allem darin, ein "Mehr" zu organisieren. Mehr Wohlstand und mehr Arbeitsplätze, aber auch ganz konkret: mehr Straßen, mehr Schulen, mehr Schwimmbäder.

Diese Politik des Mehr war eng mit dem ökonomischen Modell der Nachkriegsjahrzehnte verbunden: Die immer größere Produktivität der Industrie verlangte nach einem ebenso starken Wachstum des Konsums, der durch zahlreiche politische Maßnahmen, von staatlicher Konjunkturpolitik bis zum Ausbau der Rentenversicherung, unterstützt wurde. Sie hatte aber auch simple demografische Gründe: Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer brauchten und verbrauchten einfach eine größere öffentliche Infrastruktur.

Auf dem Land immer noch dominant

Diese Politik des Mehr ist in ländlichen Regionen noch immer der dominante Modus von Politik. Wo Lücken in der alten Infrastruktur noch immer nicht vollständig geschlossen sind, tun sich inzwischen neue Lücken in der digitalen Infrastruktur auf. Und angesichts von Abwanderung und demografischem Wandel bekommt das Mehr für viele Dörfer einen ganz existenziellen Sinn: Dort wird es zum wichtigsten Ziel der Politik, die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner zu stabilisieren oder noch besser zu steigern.

In den Städten stößt die Politik des Mehr dagegen immer stärker an Grenzen. Städtische Probleme sind zunehmend Folgen eines "zu viel", weshalb städtische Politik zunehmend das Ziel hat, den Übergang zum Weniger zu organisieren. Das gilt natürlich nicht für alle politischen Felder. Es prägt aber immer mehr politische Maßnahmen auf lokaler Ebene: Diese zielen auf weniger Verkehr, weniger Lärm, weniger Luftverschmutzung und oft auch auf weniger Zuzug – ein Ziel, das Versuche, überhitzende Wohnungsmärkte zu regulieren, zumindest halbbewusst anstreben.

"Der Wunsch nach einer Politik des Weniger gewinnt in den Städten sehr viel schneller an Gewicht als auf dem Land."

Der Wunsch nach einer grundlegend anderen Agenda der Politik zeigt sich aber nicht nur in konkreten lokalpolitischen Maßnahmen. Städterinnen und Städter sind auch die Triebkraft hinter weitergehenden Projekten, die eine Politik des Weniger zum Ziel haben. Das gilt etwa für den Teil der Klimabewegung, der eine Wirtschaft ohne Wachstum als Voraussetzung für wirksamen Klimaschutz sieht. Es gilt aber auch in der Arbeitswelt. Wer beim Einstieg in das Berufsleben mehr Wert auf Work-Life-Balance als auf rasche Gehaltssteigerungen legt, gehört meistens zu den städtischen Gruppen, bei denen das Modell des Mehr an seine Grenzen stößt.

Nun sollte man bestimmte soziale Milieus in den Innenstadtbezirken nicht mit den Städten insgesamt verwechseln. Selbst in den größten Städten hat die traditionelle Politik des Mehr noch viel Unterstützung. Trotzdem gewinnt der Wunsch nach einer Politik des Weniger in den Städten sehr viel schneller an Gewicht als auf dem Land.

Ambivalente Botschaft

Stimmt diese Diagnose, dann enthält sie eine ambivalente Botschaft für eine Politik, die das Ziel hat, Stadt-Land-Unterschiede zu verringern. In der Regel lautet die politische Antwort auf den Stadt-Land-Gegensatz bislang, die Politik des Mehr für den ländlichen Raum mit doppelter Energie zu betreiben: mehr Ärztinnen und Ärzte, mehr Busse, mehr Internet. Hier kann der Gegensatz es sogar erleichtern, Mehrheiten für diese Maßnahmen zu gewinnen. Denn gerade Städterinnen und Städter, die unter der wachsenden Dichte ihrer Städte leiden, sollten Maßnahmen begrüßen, die dazu beitragen, dass mehr Menschen auf dem Land leben oder arbeiten. Für sie funktioniert das Land gewissermaßen als Entlastungsraum überlasteter Städte.

"Während im Wohnungsbau unterschiedliche politische Lösungen für unterschiedliche Regionen möglich sind, gilt das bei den Fragen von Klimaschutz, Wirtschaftswachstum oder der Regulierung des Arbeitslebens nicht."

Jenseits solcher konkreter Maßnahmen folgt aus dieser Diagnose aber ein umso schärferer Gegensatz. Denn während etwa im Wohnungsbau unterschiedliche politische Lösungen für unterschiedliche Regionen möglich sind, gilt das bei den Fragen von Klimaschutz, Wirtschaftswachstum oder der Regulierung des Arbeitslebens nicht. Hier kann die Politik nur einheitliche Ansätze wählen, bei denen die Logik des Mehr und des Weniger in ganz unterschiedliche Richtungen weisen.

Die politischen Unterschiede zwischen Stadt und Land erschöpfen sich also nicht in Positionierungen zu einzelnen politischen Fragen. Sondern sie werfen die viel grundlegendere Frage danach auf, in welchem Modus in Zukunft Politik betrieben werden soll. Während die Politik des Mehr für die ländlichen Herausforderungen noch immer ein naheliegender Modus ist, verliert sie in den Städten zunehmend an Plausibilität. Mit konkreten politischen Maßnahmen lassen sich trotzdem noch immer Brücken über den Stadt-Land-Graben schlagen. Eine große politische Erzählung zu finden, die Stadt und Land verbindet, wird hingegen immer schwieriger. (Lukas Haffert, 15.1.2023)