In seinem Gastkommentar fordert der Völkerrechtler Wolfgang Benedek neben besserer Aufklärung auch einen verstärkten Dialog zwischen Ukrainerinnen und Ukrainern und den Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten.

Die Berliner Demonstrierenden forderten "Frieden schaffen ohne Waffen". Aber auch vom richtigen Adressaten?
Foto: Imago / Bernd Elmenthaler

"Lieber rot als tot" war der Slogan der Pazifistinnen und Pazifisten gegen Aufrüstungsbestrebungen Deutschlands und der Nato in den 1980er-Jahren. Einer, der sich damals kritisch dazu geäußert hat, war der damalige Vorsitzende der Menschenrechts-NGO Charta 77 der Tschechoslowakei, Václav Havel, der nach der Wende zum Präsidenten gewählt und unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde. In einem Artikel von 1986 in der Furche sprach er von einem "verführerischen Trichter, der so viele aufrichtige und gute Menschen in seinen Sog zieht und ‚Kampf für den Frieden‘ heißt", und von einer Illusion, dass man damit den Krieg verhindern könne, um zum Ergebnis zu gelangen: "Die Losung ‚lieber rot als tot‘ (...) erschreckt mich als Ausdruck des Verzichts des westlichen Menschen auf den Sinn des Lebens und als sein Bekenntnis zur entpersönlichten Macht."

Die Invasion in der Ukraine hat leider gezeigt, dass die Erwartung eines dauerhaften Friedens nach dem Zerfall der Sowjetunion den restorativen Imperialismus von Wladimir Putin unterschätzt hat. Die Politikerinnen und Politiker des Ostens, die die russische Herrschaft erlebt haben, haben als "Putin-Kenner" gegenüber den "Putin-Verstehern" recht behalten. Wer konnte, hat in der Nato Sicherheit gefunden, was nicht zuletzt aufgrund des Selbstbestimmungsrechts von Russland zu akzeptieren war.

"Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten."
Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht im "Manifest für Frieden"

Der Ruf nach Verhandlungen um jeden Preis, ja sogar nach einer Kapitulation der Ukraine, um weitere Opfer eines möglicherweise langwierigen Krieges zu vermeiden, steht für eine ähnliche Haltung des Pazifismus wie in den 80er-Jahren. Er wird von einer bunten Mischung von Linken, Pazifistinnen und Pazifisten und angesichts der hohen Opferzahlen zu Recht besorgten Menschen erhoben, die dabei freilich übersehen, dass es letztlich die Entscheidung der Ukraine selbst sein muss, wie weit sie ihren Verteidigungskrieg führt. Sie richten sich gegen die Waffenhilfe des Westens statt gegen die völkerrechtswidrige Aggression und die brutale Kriegsführung Russlands. Dabei werden nicht nur verstärkte Waffenlieferungen infrage gestellt, sondern auch die westlichen Sanktionen, welche für Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner ("Frieden schaffen ohne Waffen") eigentlich eine Alternative sein müssten. Die geforderte Vorenthaltung weiterer Waffenhilfe könnte den Krieg auch verlängern, ein bestimmtes und solidarisches Auftreten des Westens diesen jedoch verkürzen.

"Den Frieden erreicht man nicht, indem ein Land, das angegriffen wurde, die Waffen niederlegt. Das wäre kein Frieden, sondern Besatzung."
Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk

Warum fragt man nicht Persönlichkeiten der ukrainischen Zivilgesellschaft, wie die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Olexandra Matwijtschuk vom Zentrum für bürgerliche Freiheiten, die sich ganz überwiegend für eine Rückeroberung der besetzten Gebiete aussprechen? Ihre Organisation hat Zehntausende der bereits über 70.000 registrierten Kriegsverbrechen dokumentiert. Den Krieg sieht sie nicht als Krieg zwischen zwei Nationen, sondern zwischen zwei Systemen, zwischen Demokratie und Autokratie, und führte in ihrer Nobelpreisrede aus: "Den Frieden erreicht man nicht, indem ein Land, das angegriffen wurde, die Waffen niederlegt. Das wäre kein Frieden, sondern Besatzung."

Wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer großen Mehrheit diese Opfer einem Leben in Unfreiheit, unter Diktatur und Repression, die schon hunderttausende vorwiegend junge Russen aus ihrem Land getrieben hat, vorziehen und damit für europäische Werte eintreten, ist dies nicht unterstützenswert? Entspricht es nicht einer paternalistischen Grundhaltung, bestimmen zu wollen, welche Opfer zumutbar erscheinen?

Bunte Mischung

Bei der jüngsten Demonstration für Verhandlungen in Berlin waren auch Personen aus der Rechtsradikalen- und Querdenkerszene vertreten. In Österreich versucht die FPÖ, die ihre Kooperationsvereinbarung mit Putins Partei noch immer nicht offengelegt hat, aus den Ängsten der Menschen politischen Profit zu ziehen. Dabei darf die Warnung vor dem Einsatz von Atomwaffen nicht fehlen, den die meisten Expertinnen und Experten für äußerst unwahrscheinlich halten, der aber zum Kernrepertoire der Drohungen Putins gehört. Die auf eine Spaltung der europäischen Gesellschaft auf Grundlage "alternativer Wahrheiten" setzende russische Propaganda kann sich bei all diesen Akteurinnen und Akteuren bedanken. Auf dem Spiel stehen die Prinzipien der internationalen Ordnung wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und der Charta von Helsinki festgelegt wurden, darunter das Prinzip, dass keine Grenzänderungen durch Gewalt erfolgen dürfen.

Ohne Zweifel kann der Krieg in der Ukraine nur durch Verhandlungen beendet werden, doch lässt sich derzeit auf russischer Seite keine Bereitschaft für einen gerechten Frieden unter Wiederherstellung der gebrochenen Grundregeln der europäischen Ordnung erkennen. Diese wäre jedoch für einen nachhaltigen Frieden Voraussetzung. Geschlossenheit und Solidarität der freiheitlichen Länder sind daher wichtiger denn je. Dazu bedarf es neben einer besseren Aufklärung der Bevölkerung auch eines verstärkten Dialogs zwischen den Ukrainerinnen und Ukrainern, von denen viele auch in Österreich Schutz gefunden haben, und den Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten, um gemeinsame Strategien etwa im Hinblick auf die Grundsätze für einen zukünftigen Frieden zu entwickeln. (Wolfgang Benedek, 1.3.2023)