Der Schriftsteller Doron Rabinovici sprach zur Eröffnung des Gastlandstandes auf der Leipziger Buchmesse. DER STANDARD bringt seine Rede im Wortlaut.

Unter dem Motto "meaoiswiamia" präsentiert sich Österreich in Leipzig.
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"Können Sie eh Deutsch?" Ich wurde eingeladen, eine Rede zu halten, doch kaum angekommen, begrüßte mich ein Kommunalpolitiker mit dem Satz: "Können Sie eh Deutsch?" Vor etwa dreißig Jahren sollte in der oberösterreichischen Marktgemeinde Thalheim ein Gedenkstein eingeweiht werden. Ich war eigens aus Wien hergebeten worden, um an den Todesmarsch von Mauthausen nach Gunskirchen zu erinnern und an jene zu Tode gebrachten Juden, die hier – wie auch an vielen anderen Orten – im Frühling 1945 verscharrt worden waren, aber ich konnte nicht umhin, nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern auch die Ehrentafel für die Waffen-SS zu erwähnen, die damals noch im nahen Wels hing. Was ich sagte, sollte ein Nachspiel haben. Ein Zeitungsartikel voller Ressentiments erschien, in dem es eingehend und gar nicht freundlich um meine Herkunft ging.

Doron Rabinovici ist Schriftsteller und Historiker.
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Die Frage jener lokalen Persönlichkeit, ob ich, der als einziger Redner vorgesehen war, überhaupt der Landessprache mächtig sei, wunderte mich nicht, denn mir ist klar, wie fremd nicht nur mein Name vielen Landsleuten scheint, sodass nicht wenige denken, ich könnte ein echter Österreicher – was immer das sein soll – nicht sein und nie werden. Wäre es nach dem Willen der damaligen Mörder gegangen, gäbe es einen wie mich, der als Jude in Wien lebt und sich der deutschen Sprache verschrieben hat, nicht.

"Können Sie eh Deutsch?" An diesen Satz muss ich denken, wenn ich das Motto "meaoiswiamia" höre, unter dem Österreich als Gastland auf der Leipziger Buchmesse 2023 steht. Es ist die Vielfalt an Stimmen und Sprachen, die hier erhört sein will.
Die Frage, wie es einer mit dem Deutschen hält, geisterte im Zuge der Geschichte und in vielen Geschichten immer wieder durch die Schriften Österreichs, denn deutsch war hier eben nicht das Vaterland, sondern das, was vermeinte, die eigentliche Heimat zu sein, als lebte da nicht seit jeher eine Mischkulanz an Menschen unterschiedlicher Herkunft. Der Leitsatz "meaoiswiamia" – also: "mehr als unsereins" – verweist nicht nur auf diese heimische Melange, sondern auch auf die spezifisch österreichische Literaturtradition der Kritik an der Sprache und an den Sprachen schlechthin. Dieser Echoraum ist erfüllt vom fernen Nachhall des einstigen Vielvölkerreichs, der jahrzehntelang verstummt war, doch durch die jüngere Zuwanderung an neuer Kraft gewinnt. In den vielseitigen Büchern österreichischer Dichtung kann nachgelesen werden, wie verkürzt es stets schon war, das Land und seine Leute auf eine einzige völkische Formel bringen zu wollen.

Feiste Selbstgerechtigkeit

"meaoiswiamia" will dem einschlägigen Schlachtruf "miasanmia" entgegenschallen, jener feisten Selbstgerechtigkeit, die außer sich selbst nichts kennen will. In dem nicht immer gar so gastlichen Gastland werden wieder Koalitionen geschlossen mit Politikern, die Lieder zu singen wissen, von der siebenten Million vergaster Juden, die es noch zu schaffen gilt. Legitimiert wird auf diese Weise solch ein Bündnis im Bund. Unerträglich ist, was beinah wie eine groteske Fiktion wirkt: Was früher nur der Namen eines Bundeslandes war, klingt nun wie ein politisches Projekt für den ganzen Staat: "Niederösterreich!"

"Vielerorts – ob in Ungarn, in Italien, in Polen, in Israel – kommen in den letzten Jahren Kräfte an die Macht, die im Namen des Nationalen alles Ungleiche und Eigenwillige ausgrenzen wollen."

Solche Koalitionen sind längst keine austriakische Spezialität mehr – was allerdings auch kein wahrer Trost ist … Vielerorts – ob in Ungarn, in Italien, in Polen, in Israel – kommen in den letzten Jahren Kräfte an die Macht, die im Namen des Nationalen alles Ungleiche und Eigenwillige ausgrenzen wollen. Sie machen mobil gegen die offene Gesellschaft und gegen alle freie Kunst, die sich in ihren Werken jeglicher Bevormundung zu widersetzen versucht. Unabhängige Redaktionen geraten derweil in die Krise. Boulevard und Hetzmagazine werden gefördert und die "Wiener Zeitung", das älteste noch erscheinende Tagesblatt der Welt, wird unterdessen eingestellt.

Literatur, die uns nicht mit Regierungsinseraten, sondern mit ihren Worten allein bestechen kann, wirkt dagegen jenseits der Quoten und der Klicks. Sie spricht an, was in der Öffentlichkeit sonst so gerne totgeschwiegen wird. Sie verhilft dem Unerhörten zum Widerhall. Bekanntlich war das, was in der deutschen Bundesrepublik längst niemandem mehr wurscht sein durfte, im Alpenland noch vielen allemal blunzn. Dort, wo alles Ungleiche niedergestampft und schuhgeplattelt, über jegliche Ungereimtheit hinweggeschunkelt und wienergewalzt wird, lehrt uns Dichtung, auf jeden Ton und jeden Missklang zu achten.

Zauber der Dichtung

Aber gilt das, wovon ich hier rede, etwa nur für die Poetik dieses einen Staates? Die Kunst, uns jene Geschichten zu erzählen, von denen bisher niemand wissen wollte, kennen wir doch auch von anderen Nationen. Vielfalt kennzeichnet nicht nur die Literatur Österreichs. Ist das nicht eben jener Zauber, den wir an jeder Dichtung schätzen?

"Die eigentliche Gefahr könnte nicht so sehr in der Europäisierung Österreichs, sondern eher in der Austrofizierung Europas liegen."

Ich erinnere mich, wie im Jahr 1994 die Republik über den Beitritt zur Europäischen Union abstimmte, und um dem Wahlvolk zu versichern, dass Österreich seine Identität nicht wie eine heiße Kartoffel fallen lassen werde, wurde allseits plakatiert: "Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat." Immerhin ein Versprechen, das von der Politik nicht gebrochen wurde … Manchmal, wenn ich einige der Entwicklungen im Land beobachte, denke ich indes, die eigentliche Gefahr könnte nicht so sehr in der Europäisierung Österreichs, sondern eher in der Austrofizierung Europas liegen.

"Wer immer nur 'unter sich' sein möchte, bleibt letztlich bloß unter dem eigenen Niveau."

Aber würde es mich nicht schmerzen, wenn ich auf die Wörter, die mir eigen sind, gänzlich verzichten müsste? Die Eigenheiten zu unterschlagen, ist ebenso fatal, wie auf dem Volkstümlichen herumzureiten, als wäre es entscheidend, ob jemand Quark redet oder einen Topfen. Literatur hat ihr Herkommen, aber sie will nicht darauf beschränkt sein. Wer immer nur "unter sich" sein möchte, bleibt letztlich bloß unter dem eigenen Niveau. Ein Autor in London kann mir näher sein als ein Wiener Schriftsteller aus demselben Viertel, aus meinem Grätzel. Ich kann zugleich ein jüdischer, ein Wiener, ein österreichischer und ein europäischer Schriftsteller sein, der Teil der deutschen Literatur ist und seine israelische Identität nicht verleugnet.

Dichtkunst kann alle staatliche Beschränktheit überschreiten, aber die nationalen Besonderheiten sind auch Abbild jener Verhältnisse, die jeweils um sie herum herrschen. Das gänzlich auszublenden, könnte allzu leicht dazu verleiten, zu übersehen, welche Weltliteratur etwa in manch kleineren Ländern entsteht. Es gibt keinen Text ohne Kontext. Jeder Sprachenraum ist speziell gestimmt und kennt seine eigene Harmonielehre voller Schönheit.

Kein Diktat

Literatur lebt nicht vom Diktat. Sie erlässt kein Gesetz und ersetzt keinen Erlass. Ihr Dasein ist die Möglichkeitsform. Sie lehrt uns, im Wort "Würde" mehr zu sehen als einen Konjunktiv unseres Seins. Sie spricht für das Subjekt, das in heimischen Polizeiprotokollen immer als ein suspektes bezeichnet wird und das dem Populismus alleweil verdächtig ist.

Der Tyrann will sie mundtot machen, ob in Moskau, in Minsk oder auch in Peking. Kein Mensch kommt mit Literatur allein zu seinem Recht, doch der Despot fürchtet die Hoffnungen und die Sehnsüchte jenseits seiner Macht, von denen sie zu erzählen vermag. Literatur geht an die Grenze, doch sie macht davor nicht halt. Ihr Terrain reicht über alle Hoheitsgebiete hinaus. Ihre Fantasie erschließt uns ein gemeinsames Festland. Sie ist eine Fortschreibung, weswegen wir mit ihr mehr werden können, als wir je waren. Meaoiswiamia. (Doron Rabinovici, 27.4.2023)