Roger de Weck 2021 bei einem Interview in Wien.

Foto: Robert Newald

Roger de Weck (69) beobachtet die Debatte über das neue ORF-Gesetz und den Konflikt mit privaten Medien aufmerksam aus der Schweiz. Der Publizist und Manager führte selbst von 2011 bis 2017 die Schweizer öffentlich-rechtliche SRG – die sich 2018 einer Volksabstimmung zur Abschaffung der Rundfunkgebühren stellen musste und diese gewann.

Bevor de Weck die Führung der SRG übernahm, war er in den 1990ern Chefredakteur des Schweizer "Tagesspiegel" und der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit", danach freier Publizist und Moderator der "Sternstunde Philosophie" im Schweizer Fernsehen.

Im STANDARD-Interview empfiehlt er privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, insbesondere bei der Gewinnung und Nutzung von Daten für die (private) Werbevermarktung zusammenzuarbeiten, wie er es in der Schweiz als SRG-Chef versucht hat: "Es liegt weder im Interesse der Privaten, das öffentliche Medienhaus auszuhöhlen, noch im Interesse des öffentlichen Medienhauses, die Privaten zu vernachlässigen. Die beiden sind aufeinander angewiesen im internationalen Wettbewerb. Das ist die zukunftsweisende Logik."

De Weck plädiert zudem für Journalismusförderung bei privaten Medien – mit Blick auf öffentliche Inseratenvergabe in Österreich insgesamt fügt er jedoch an: "Aber bitte nicht wie in Österreich, wo der Staat willkürlich Anzeigen an befreundete Medien vergibt! Das Wiener Willkürmodell ist demokratiefeindlich", erklärt de Weck zu den im internationalen Vergleich sehr hohen öffentlichen Werbebuchungen in Österreich.

"Wäre die Medienlandschaft besser ohne ORF?"

STANDARD: Wir schreiben das Jahr 2023, diskutieren in Österreich mit einem neuen ORF-Gesetz auch die Rolle des ORF. Braucht man öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch?

De Weck: Wäre die Medienlandschaft besser ohne ORF?

STANDARD: Wenn Sie den einen oder anderen österreichischen Verleger fragen, könnten Sie heute ein Ja hören. Manche sehen ihre wirtschaftliche Existenz durch die dominierende Stellung des ORF bedroht.

De Weck: Die österreichischen Verleger kenne ich kaum. Die Schweizer Verleger ihrerseits haben zwanzig Jahre zu spät gemerkt, dass ihre eigentlichen Wettbewerber Google und Co sind und nicht das öffentliche Medienhaus. Globale Plattformen haben das Geschäftsmodell der Verleger zerstört, aber ihr Feindbild bleibt der ORF, in meinem Land die SRG. Doch inzwischen dämmert es einigen Verlegern, dass sie sich auf einem Nebenkriegsschauplatz verkämpfen. Das hat die Debatte leicht entspannt. Illusorisch und anachronistisch ist die Vorstellung, die Schwächung der öffentlich-rechtlichen Medien werde die privaten Medien wesentlich stärken.

STANDARD: Was ist die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks heute? Was kann er, was private Medien nicht können?

De Weck: Audiovisuelle Produktionen sind kostspielig, erst recht, wenn sie sich auf dem Heimmarkt gegen die Produktionen internationaler Anbieter behaupten müssen. In kleinen Ländern wie Österreich oder der Schweiz rentieren sich die wenigsten wichtigen Produktionen. Ohne öffentliche Finanzierung würde das audiovisuelle Schaffen einbrechen. Der ORF bietet jenen audiovisuellen Spiegel, den im audiovisuellen Zeitalter jedes Land braucht.

STANDARD: Diese Rolle für öffentlich-rechtliche Anbieter würden auch österreichische Verleger sehen.

De Weck: Hinzu kommt: Guter Journalismus fürs breite Publikum wird zum Verlustgeschäft. Elitemedien halten sich vorderhand einigermaßen, weil sie sich an ein kaufkräftiges Publikum von Entscheidungsträgern wenden, die gut informiert sein wollen. Die große medienpolitische und demokratiepolitische Herausforderung ist aber die verlässliche, nichtboulevardeske Information der Normalbürgerinnen und -bürger. Darauf ist die Demokratie angewiesen. Wo solider Journalismus für das breiteste Publikum zum Verlustgeschäft wird, wäre es aberwitzig, den vorzüglichen ORF-Journalismus auf Diät zu setzen.

STANDARD: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk erhält große öffentliche Förderungen. Mit diesen Mitteln würden auch private Unternehmen gerne identitätsstiftende audiovisuelle Inhalte produzieren und guten Journalismus für alle machen.

De Weck: Der demokratische Staat muss künftig weit über die öffentlichen Medienhäuser hinaus den Journalismus unterstützen. Denn er ist eine Infrastruktur der Demokratie. Lässt sich mit solidem Journalismus kaum Geld verdienen, werden Hilfen für private Medienhäuser nötig. Aber bitte nicht wie in Österreich, wo der Staat willkürlich Anzeigen an befreundete Medien vergibt! Schauen Sie in die Rangliste der Medienfreiheit von Reporter ohne Grenzen: Österreich ist vergangenes Jahr vom 17. auf den 31. Platz zurückgefallen, hinter die Dominikanische Republik. Das Wiener Willkürmodell ist demokratiefeindlich.

STANDARD: Was wäre ein taugliches Modell?

De Weck: Nordeuropa kennt Modelle, die in aller Rechtssicherheit die Unabhängigkeit privater geförderter Medien sichern. Im sozialdemokratischen Schweden wurde das bürgerliche Oppositionsblatt "Svenska Dagbladet" jahrzehntelang subventioniert – und darauf hatte die linke Regierung nicht den geringsten Einfluss. Das ist der zweckmäßige Gegenpol zum obrigkeitlichen "Modell" in Österreich.

STANDARD: Medienwissenschafter Leonard Novy sieht das öffentlich-rechtliche System in einer Krise von Identität, Rechtfertigung und Akzeptanz. Wenn das stimmt – was kann man dagegen tun?

De Weck: Die öffentliche Meinung über ORF, ARD, ZDF und die anderen ist besser als die veröffentlichte Meinung. Private Medien berichten tendenziell missgünstig über öffentlich-rechtliche Medienhäuser, seit je und in jedem Land. In der Schweiz seit 1930. Wir hatten eine Volksabstimmung über die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG. Gut 72 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sprachen sich dagegen aus, dieses Medienhaus faktisch abzuschaffen.

STANDARD: Nach meiner Erinnerung gingen rund 55 Prozent der Stimmberechtigten zur Abstimmung über die Rundfunkgebühr.

De Weck: In der Schweiz nennen wir "Stimmbürger" diejenigen, die zur Urne gehen. Bei den vielen Volksabstimmungen sind 55 Prozent eine hohe Beteiligung. Am stärksten stimmten übrigens die 18- bis 28-Jährigen für das Medienhaus. Es ist eine Legende, dass die öffentlichen Medienhäuser fundamental an Akzeptanz verlören und dass sich die Jugend von ihnen abwende. Vor der Abstimmung waren etliche Verleger siegessicher, sie könnten die SRG beseitigen. Die Verleger begingen den Fehler, zu glauben, was sie in ihren Zeitungen lasen.

STANDARD: Nun wird eine weitere Volksabstimmung vorbereitet, die diesmal die Schweizer Haushaltsabgabe deutlich reduzieren will.

De Weck: Das neue Volksbegehren verlangt eine Halbierung der Abgabe. Es ist noch nicht einmal eingereicht worden. Und hat nicht den Hauch einer Chance. Die Schweizerinnen und Schweizer werden dieses Ansinnen der Rechtspopulisten abermals klar ablehnen. Gerade die bürgerlichen Parteien merken allmählich, dass sie den Demagogen noch mehr Raum eröffnen, wenn sie ausgerechnet das Medienhaus schwächen, das Brücken schlägt zwischen den Lagern.

STANDARD: Noch so eine Aufgabe, die öffentlich-rechtlichem Rundfunk zugeschrieben wird.

De Weck: Blicken Sie mal auf die verheerende Lage in den Vereinigten Staaten. Öffentliche Medienhäuser haben dort wenig Geld und einen marginalen Marktanteil. Es gibt keine Medien mehr, die sich an alle Bürgerinnen und Bürger wenden. Die Medienlandschaft ist ebenso zweigeteilt wie die Gesellschaft. Dieser Riss hat durchaus auch damit zu tun, dass ein starkes öffentliches Medienhaus fehlt. Nimmt es seine Brückenfunktion wahr, trägt es zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Nicht nur über Informationssendungen, sondern ebenso über Serien, die bewusst die gesellschaftliche Realität spiegeln. Sportereignisse und der European Song Contest vermitteln nach wie vor "Lagerfeuererlebnisse". Die vielgescholtene Unterhaltung wirkt oft integrativ.

STANDARD: Medienwissenschafter Novy, der von öffentlich-rechtlichen Krisen spricht, ist gänzlich unverdächtig, Zeitungsinteressen zu verfolgen.

De Weck: Ob privat oder öffentlich-rechtlich, jedes Medienhaus muss sich im digitalen Umbruch erneuern. Klar, dass das mit Krisen einhergeht. Tut man aber das Richtige, sehe ich keine existenzielle Krise. Auf der Suche nach neuen Geschäftsmodellen hilft nicht die Konfrontation, sondern das Zusammenspiel privater und öffentlicher Medien, um gemeinsam den globalen Plattformen die Stirn zu bieten. Netflix gab 2022 15 Milliarden Euro für Produktionen aus. Der ORF hat insgesamt eine Milliarde. Sollen die kleinen Österreicher einander bekämpfen und noch kleiner machen – zur Freude von Netflix und Co? Gute Partnerschaft zwischen soliden nationalen Medien ist die effizientere Lösung.

STANDARD: Der ORF ist zweieinhalbmal größer als die größten privaten Verlagshäuser, er hat das online klar dominierende österreichische Angebot. Private Medienunternehmen argumentieren, sie können keine Bezahlangebote durchsetzen, weil es dieses große, öffentlich finanzierte, frei zugängliche ORF-Angebot gibt. In der Schweiz gibt es für die SRG eine Beschränkung reiner Textmeldungen auf 1.000 Zeichen.

De Weck: Überall im Internet sind News gratis zu sehen und zu lesen: Nachrichten sind heute ein kostenloser Rohstoff. Worauf es ankommt, ist die Vertiefung dieser News. Solche Vertiefung erfolgt bei öffentlichen Medienhäusern vorwiegend audiovisuell, bei privaten vorwiegend in geschriebener Form. Da herrscht Komplementarität. Wer bei der SRG oder eines Tages beim ORF Texte ohne Bezug zu einer Sendung auf 1.000 Zeichen begrenzt, der ändert rein gar nichts an der Lage der Verleger, das ist Symbolpolitik. Und Kleinkrämerei.

STANDARD: Und was würde etwas ändern?

De Weck: Als Generaldirektor der SRG hatte ich mit dem Medienkonzern Ringier und dem führenden Telekomkonzern Swisscom ein Joint Venture gegründet, um gemeinsam Daten zu sammeln, die aber nur von den Privaten vermarktet wurden – anonymisiert in Zielgruppen. Nur wenn nationale Anbieter zusammenspannen, haben sie die kritische Masse, um mit den Global Players zu konkurrieren und im eigenen Land einen nennenswerten Werbemarktanteil zu behaupten. Das wäre ein Beitrag zum Geschäftsmodell gewesen. Doch haben andere Verleger das Vorhaben letztlich sabotiert.

STANDARD: Wenn sich drei Marktbeherrscher zusammentun, kann man schon verstehen, dass die übrigen Medienhäuser allergisch reagieren.

De Weck: Alle wurden zur Teilnahme eingeladen.

STANDARD: Sie würden so eine Zusammenarbeit auch den österreichischen Playern empfehlen?

De Weck: Wenn sich Verleger zusammentun, einen Datenpool gründen, dann stärken sie sich im Wettbewerb mit den Global Players. Und: Können die Verleger obendrein auch anonymisierte Daten des ORF nutzen – ohne dass der ORF selbst diese Daten vermarktet, denn es ist wahrlich nicht seine Aufgabe – , dann gewinnt insgesamt die österreichische Medienbranche.

STANDARD: Was hat der öffentliche Anbieter davon?

De Weck: Öffentliche Medienhäuser haben einen gemeinnützigen Auftrag: für die Menschen im Lande, für die Demokratie, für die Kultur, für die Branche, auch für deren technologische Infrastruktur im digitalen 21. Jahrhundert. Das ist moderner Public Service. Es liegt weder im Interesse der Privaten, das öffentliche Medienhaus auszuhöhlen, noch im Interesse des öffentlichen Medienhauses, die Privaten zu vernachlässigen. Die beiden sind aufeinander angewiesen im internationalen Wettbewerb. Das ist die zukunftsweisende Logik. (Harald Fidler, 29.4.2023)