In seinem Gastkommentar schreibt der Schriftsteller Franzobel über den roten Angsttraum.

Hans Peter Doskozil, der Landeshauptmann des Burgenlands, Michaela Grubesa, die mittlerweile zurückgetretene Leiterin der Wahlkommission, und Andreas Babler, der Traiskirchner Bürgermeister und neue Vorsitzende der SPÖ.
Heute ist alles anders als am vergangenen Samstag gedacht. Doskozil, Grubesa und Babler beim Linzer Parteitag.
Foto: APA / Helmut Fohringer

In meinen schlimmsten, sporadisch wiederkehrenden Angstträumen muss ich zurück in die Schule und die Matura wiederholen. Die Aufgaben sind unterschiedlich, aber das Befüllen einer Excel-Datei gehört normalerweise nicht dazu. Trotzdem wache ich jedes Mal schreiend und schweißgebadet auf.

Für Hans Peter Doskozil ist so ein Angsttraum Wirklichkeit geworden, doch nicht Parteivorsitzender, und welch Albdrücke Andreas Babler in nächster Zeit plagen werden, kann man sich ausmalen. Der einst so mächtigen SPÖ sitzt eine gräuliche Drud auf der Brust, sie verliert Wahlen sogar dann, wenn sie nur gegen sich selbst antritt.

Das Absurde daran: Der Fehler wurde überhaupt erst durch Zufall oder die Nachfrage eines Journalisten entdeckt. Man mag sich gar nicht vorstellen, was da sonst noch alles danebengeht, wie viele Leute in diesem Land durch einen falschen Eintrag keine Wohnung bekommen, unnötig operiert oder gleich fälschlicherweise für tot erklärt werden.

Auftritt Böhmermann?

Eine Großpartei schafft es nicht, sechshundert Stimmen auszuzählen? Das ist fast so grotesk wie damals 1999, als Hape Kerkeling den neuen litauischen GAK-Trainer Albertas Klimawiszys mimte. Auch diesmal rechnet man damit, dass sich (Ex-)Wahlleiterin Michaela Grubesa die Maske vom Gesicht reißt und ihrem Urnengangkontrollkokon ein Jan Böhmermann entsteigt. Das ist nicht der Fall. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sich zerwuzeln. Eine verloren gegangene Stimme kostet Doskozil den Parteivorsitz. Äquatorialguinea bietet an, Wahlbeobachter zu entsenden. Babler im Excelbad der Gefühle.

So holt man aber keine Wählerinnen und Wähler zurück. Oder kalkuliert man mit der Solidarität aller Mathematikhasser? Damit, dass der Durchschnittsösterreicher Rechendilettantismus als Volksnähe begreift? Selten wurde bei einer Wahl so deutlich, wie sehr jede einzelne Stimme zählt. Ich vermute ja, dass die verloren gegangene Stimme dem ominösen dritten Kandidaten zuzurechnen ist, der auf den Ergebnislisten mit null Prozent ausgewiesen ist – Berthold Felber, den man zwar antreten, aber nicht eintreten ließ. Felber wählt sich nicht einmal selber?

"Die SPÖ ist angezählt."

Jedenfalls ist auch nach der x-ten Auszählung klar: Die SPÖ ist angezählt. Es stellt sich die Frage, ob mit der linken Volkspartei noch zu rechnen ist. Herbert Kickl wird zur Feier des Tages ein paar Tonsuren fechten, antisozialistische Lieder singen und eine Pferdeleberkäsesemmel verspeisen, während man in den Schaltzentralen der ÖVP ein paar Stoßgebete für Dollfuss zum Himmel schickt.

Wer auf die SPÖ als Verhinderer von Blau-Schwarz gehofft hat, hat sich möglicherweise grob verrechnet. Es ist alles sehr kompliziert, hat bereits Bundeskanzler Fred Sinowatz festgestellt, aber dabei nicht an das Befüllen einer Exceldatei gedacht. Und unter Excellenz Bruno Kreisky wäre so etwas sowieso niemals passiert.

"Mit den Tränen jedes echten Sozialisten ob des gegenwärtigen Dilettantismus ließe sich der Neusiedler See befüllen."

Man kann der Sozialdemokratie vieles vorwerfen – Bonzentum, Postenschacher, Korruption –, aber sie hat in diesem Land auch vieles durchgesetzt, was den Wohlstand aller begründet hat: Mutterschutz, Abschaffung des Schulgeldes, Legalisierung der Homosexualität, Kinderbeihilfe, Arbeitszeitverkürzung, Gleichstellung der Frau, Sozialversicherung, Lehrlingsentschädigung, sozialer Wohnbau, Mietbeihilfen, Gesundenuntersuchung und vieles mehr.

Nur von historischen Leistungen zu zehren reicht aber auch nicht, und gegenwärtig macht die Partei den Eindruck, als würde sie Fettnäpfe aufstellen, um dann mit Anlauf hineinzuspringen. Peinlich? Ja, aber Fehler passieren, und die Albträume jenes Menschen, der die Zahlen falsch eingetragen hat, möchte ich nicht haben – da trete ich lieber noch ein paar Mal zur Matura an. Aber wegen eines blöden Missgeschicks eine ganze Partei verdammen?

Die Brezen der anderen

Ich beschäftige mich kaum mit Tagespolitik, weil ich überzeugt bin, dass dieses Geschäft korrumpiert und charakterlich verdirbt. Der österreichische Politiker, die österreichische Politikerin – egal welcher Couleur – ist in seiner oder ihrer patscherten Provinzialität bestenfalls liebenswert, aber fast ausnahmslos lächerlich. Trotzdem halte ich den österreichischen Weg mit der Sozialpartnerschaft für vorbildlich.

Mit den Tränen jedes echten Sozialisten ob des gegenwärtigen Dilettantismus ließe sich der Neusiedler See befüllen – ist die Glaubwürdigkeit der Partei doch an einem historischen Tiefststand angelangt. Trotzdem hoffe ich, dass mit der SPÖ wieder zu rechnen ist, auch wenn sie das nicht kann. Denn welche Brezen haben die anderen gerissen: Hypo Alpe Adria, Ibiza, Chatprotokolle, Schwiegermuttermillionen, Inserate, Pferdeentwurmungsmittel …

So verkommen wie Österreich möchte man nicht sein. Eigentlich muss man sich jeden Morgen wundern, dass noch alles halbwegs funktioniert. Oder ist das Land ein großangelegtes Satireprojekt, bei dem zwar uns das Lachen längst vergangen ist, sich andere aber gar köstlich amüsieren? Manchmal erwache ich aus meinen schlimmsten Träumen, aber dann stelle ich rasch fest: Die Realität ist schlimmer. (Franzobel, 7.6.2023)