Premier Viktor Orbán wird den Vorsitz Ungarns nur für seine eigenen Zwecke missbrauchen, schreibt Márton Gergely von der ungarischen Wochenzeitung "HVG" in seinem Gastkommentar.

Viktor Orban Premierminister Ungarn
Viktor Orbáns Ungarn soll im Juli 2024 den EU-Vorsitz übernehmen. Im EU-Parlament regt sich dagegen Widerstand.
Foto: AP / Geert Vanden Wijngaert

Wer – wie das EU-Parlament kürzlich – der ungarischen Regierung den Vorsitz im Rat der Europäischen Union nehmen will, hat Viktor Orbán durchschaut. Es war auch Zeit, der ungarische Ministerpräsident ist seit 13 Jahren im Amt und benutzt seitdem seinem Land zustehende EU-Fördermittel, um seine Macht und seinen Reichtum auszubauen.

Orbán versteht Macht als Möglichkeit, seinen Willen durchzusetzen. Dabei achtet er nie auf Andersdenkende. Sollte seine Regierung die Ratspräsidentschaft übernehmen, wird er sie für seine Zwecke missbrauchen. Wer denkt, diese Position sei nur eine symbolische, logistische Aufgabe, vergisst, dass Orbán seit der russischen Invasion der Ukraine vor allem durch Gesten die Einheit Europas gefährdet. Er hat allen Sanktionen und gemeinsamen Waffenpaketen zugestimmt, und doch konnte er Akzente setzen, die nur in Moskau mit Wohlwollen aufgenommen wurden.

Orbáns Weltsicht

Eine ungarische Ratspräsidentschaft wird versuchen, Bilder zu liefern, die Orbáns Weltsicht untermauern. Er wird Gäste von außerhalb der Union einladen, die er umschmeichelt, während er gegen Brüssel hetzt. Er wird auch die Agenda so besetzen, dass es für seine Freunde von Vorteil ist. Und das Ganze zu einer Zeit, die besonders heikel wird. Im zweiten Halbjahr 2024 wird die EU die Europawahl verdauen müssen, und die Staats- und Regierungschefs werden im Rat eine Führungsriege für Brüssel finden müssen. Schon letztes Mal hatte Orbán einen großen Anteil daran, dass nicht der Kandidat der stärksten Fraktion im Europaparlament der Präsident der Kommission wurde. Er hat Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten blockiert, die eine demokratische Legitimität gehabt hätten, und half dabei, dass die Spitzenpositionen wieder in Hinterzimmern vergeben wurden.

Wer denkt, Europa braucht mehr Demokratie, mehr Transparenz und die Kommission sollte dem Votum der Bürgerinnen und Bürger der EU mehr ähneln, sollte auf eine andere Ratspräsidentschaft hoffen.

Schizophrener Wahlkampf

Diese Debatte ist aber keine ungarische. In Budapest diskutiert man kaum über den Vorsitz im Rat, die Regierungsmedien verbreiten Lügen und Halbwahrheiten über den europäischen Migrationspakt, als sei der von Philanthrop George Soros und Menschenschmugglern diktiert worden. Und es wird gegen den Oberbürgermeister von Budapest Stimmung gemacht, weil die renovierte Kettenbrücke für Privatautos gesperrt bleibt.

Beides hat mit den Wahlen im nächsten Jahr zu tun. Orbáns Partei Fidesz verlegte die auf Herbst angesetzten Kommunalwahlen auf den Tag der Europawahlen im Juni, weil sie davon einen strategischen Vorteil erwartet: Die Oppositionsparteien wollen sich bei der einfachen Listenwahl fürs Europaparlament einzeln messen, in den Gemeinden müssen sie sich aber verbünden, um gegen die Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei eine Chance zu haben. Die Opposition wird also einen schizophrenen Wahlkampf führen müssen: gleichzeitig gegeneinander und miteinander kämpfen. Orbán will die Schmach vergessen machen, als vor fünf Jahren Budapest und viele wichtige Städte an die Opposition gingen, und er träumt gleichzeitig davon, Europa zu erobern.

"Bei der Europawahl setzt Orbán darauf, dass seine Freunde ihren Stimmanteil ausbauen – also der französische Rassemblement National, die deutsche AfD und natürlich die FPÖ."

Der ungarische Ministerpräsident prophezeit schon seit langem, dass es zu einer Revolte gegen die liberale Elite kommt. Er verkalkulierte sich immer wieder, glaubt aber noch stärker, dass seine Zeit gekommen sei. Er hofft, dass nach Italien und Polen in kurzer Zeit in Österreich, Spanien und in der Slowakei populistische Parteien an die Regierung kommen werden. Bei der Europawahl setzt Orbán darauf, dass seine Freunde ihren Stimmanteil ausbauen – also der französische Rassemblement National, die deutsche AfD und natürlich die FPÖ. Und dann gibt es noch zwei andere Wahlen, die für ihn wichtig werden. Orbán hofft sicherlich, dass die ukrainische Präsidentschaftswahl nicht abgehalten werden kann und dadurch die demokratische Legitimität der ukrainischen Führung einen empfindlichen Schlag bekommt. Und dass im November 2024 Donald Trump das Weiße Haus zurückerobert.

Das ist die Melange, die Orbáns derzeitige Isolierung beenden könnte und ihn zu einem wichtigen Player auf der internationalen Bühne macht. Es ist die letzte große Ambition, die er noch hegt und für die er bereit ist, viel zu investieren und auch Risiko einzugehen. Man sieht es an den Verhandlungen der Orbán-Regierung mit der Brüsseler Kommission. Im Zuge des Rechtsstaatlichkeitsverfahrens werden Ungarn riesige Summen entsagt, bis es allen Reformforderungen nachkommt. Eigentlich braucht das Land dringend Mittel, um den Staatshaushalt finanzieren zu können. Orbán aber fährt eine Doppelstrategie. Er lässt seine Minister in Brüssel verhandeln und Gesetzestexte erarbeiten, die den Deal besiegeln würden. Und gleichzeitig versucht er, Geld durch Steuererhöhungen einzutreiben und asiatische Großinvestitionen nach Ungarn zu holen. Und er versucht, die unpopulären Entscheidungen durch Propaganda auszubalancieren.

Fundamentale Forderungen

Ein Experte verglich die EU-Verhandlungen schon mit einem zweiten Aufnahmeprozess, da die Forderungen so fundamental sind, wie sie nur vor dem Beitritt waren. Sie würden Orbáns System empfindlich zurückbauen. Der ungarische Ministerpräsident hofft also auf die Chance, die Kommission unter seinem Vorsitz im Rat so neu besetzen zu können, damit sie sich ihm gegenüber nachgiebiger zeigt. Und er hält sich eine Hintertür offen. In Budapest hört man immer öfter das Wort "Huxit". Bereitet Orbán den Austritt seines Landes aus der EU vor? Das ist schwer vorzustellen, brachte Europa seiner Regierung doch so viele Vorteile. Sollte er aber keinen Nutzen mehr in der Gemeinschaft finden, könnte er sich sehr wohl dafür entscheiden. Für das Land wäre das die Katastrophe. (Márton Gergely, 17.6.2023)