Die Gewinner des heurigen ­Bewerbs: Martin Piekar, Valeria Gordeev, Laura Leupi und die Wienerin Anna Felnhofer (v. li.).
Die Gewinner des heurigen ­Bewerbs: Martin Piekar, Valeria Gordeev, Laura Leupi und die Wienerin Anna Felnhofer (v. li.).
APA/GERT EGGENBERGER

"Gegen die Realität verliert die Literatur“, hatte die Bachmannpreisträgerin von 2018 und heurige Eröffnungsrednerin, Tanja Maljartschuk, am Mittwochabend in ihrer Rede Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf zum Start der 47. Tage der deutschsprachigen Literatur gesagt. Zum Abschluss am Sonntag setzte Juryvorsitzende Insa Wilke dem einen hoffnungsvolleren Gedanken nach: Wir seien doch da, wenn das mal keinen Unterschied mache! Ja, zwölf Autorinnen und Autoren waren in Klagenfurt dabei und haben sich redlich bemüht. Es war ein überzeugender Jahrgang auf allen Ebenen: formal gut erzählt, zugänglich, auch inhaltlich stark.

Luxusprobleme und Blasentexte? Fehlanzeige. Da war viel Welt vorhanden: Jayrome C. Robinet schleuste gleich mit der ersten Lesung eine Transperson in den Bewerb, Jacinta Nandi thematisierte Gewaltbeziehungen und war auch mit für Klagenfurt ungewohnt frechem Ton stilistisch bereichernd. Ebenso spielten Migrationsbiografien, quasi schon Grundausstattung im Bewerb, eine Rolle.

Für eine solche kam denn auch der Deutsche Martin Piekar auf den dritten Platz. Im Stechen setzte er sich gegen Laura Leupi durch, die am Samstag Das Alphabet der sexualisierten Gewalt von A bis Z vorgetragen hatte. Juror Philipp Tingler hatte sich an den vielen identitätspolitisch geprägten Schlagworten gestört – die Leupi aber tatsächlich gegen den Strich bürstete, sozusagen öffnete, zur Diskussion stellte: Nicht nur mit Penis könne man etwa vergewaltigen, auch wenn das Schweizer Strafgesetzbuch das so vorsehe. Leupi fuhr mit dem 3sat-Preis (7500 Euro) nach Hause.

Zweiter Platz für Österreicherin

Piekars Porträt einer in der Pflege beschäftigten, ansonsten aber einsamen Mutter, vor Jahren aus Polen nach Deutschland zugewandert (der Autor ist selbst polnischer Abstammung), aber sozial nie aufgenommen, stieß, obwohl historisch grundiert, direkt in heutige Debatten um Zuwanderung. Gerade in Zeiten von Alarmmeldungen, dass in den kommenden Jahren tausende Pflegekräfte fehlen und aus dem Ausland ins Land geholt werden müssen, kann sie als Mahnung stehen: für unseren Umgang mit Menschen, die in belastenden Berufen nur als dienliches Material wahrgenommen werden. Am Ende gab es für Mit Wänden sprechen / Pole sind schwierige Volk auch noch den online vergebenen, mit einem Stadtschreiberposten in Klagenfurt verbundenen BKS-Publikumspreis (7000 Euro). Juror Klaus Kastberger kann damit heuer wieder einen Siegertext für sich verbuchen.

Als Favoritin für den Hauptpreis hatte die Wienerin Anna Felnhofer (nominiert von Brigitte Schwens-Harrant) gegolten. Mit klarer, manchmal fast klinischer Präzision schildert Felnhofer, im Brotberuf klinische Psychologin, in Fische fangen einen Burschen, der keine Gesichter erkennen und sich damit nicht in die Gesellschaft einfügen, keine Beziehungen aufbauen kann. Sie war vom Dlf-Preis (12.500 Euro) überwältigt. Es sei erwähnt, dass Felnhofers Bücher beim kleinen, feinen Wiener Verlag Luftschacht erscheinen, der heuer neben ihr auch den leer ausgegangenen Mario Wurmitzer (er setzte sich satirisch mit Tiny Houses und Marketing auseinander) im Bewerb hatte. Ein sehr verdientes Geschenk zum 20-jährigen Bestehen des Verlags.

Putzen als Kampf

Felnhofer war in der Punkteabgabe um den Bachmannpreis mit einem Punkt (18 zu 19) der Deutschen Valeria Gordeev unterlegen. Von einem Krankheitsbild kann man auch bei deren Text (25.000 Euro) sprechen, obsessives Putzen weist darin weit über sich hinaus. Oder anders gesagt: Hinter minutiös benannten und bearbeiteten Spülenabflüssen, Wattestäbchen und selbstgemischten Reinigern steht in Er putzt eine Welt, die geprägt ist vom Krieg auf vielen Ebenen, wie Einladende Insa Wilke lobte. Putzen als geistiger Kampf.

Was bleibt außer den Preisen vom Bewerb? Der Bachmannpreis hat als "Wettlesen", "Betriebsausflug" und Marketinginstrument seine Wirkung wieder einmal getan: Demnächst schon werden Romane zahlreicher hier Aufgetretener erscheinen. Autorinnen und Autoren fahren zudem mit mehr Followern in den sozialen Netzwerken heim, und viele von ihnen werden in den nächsten Tagen hunderte nach ihren Lesungen eingetrudelte E-Mails von Verlagen und Veranstaltern zu beantworten haben. Der größere Text hinter Piekars Bachmannpreis-Beitrag sucht etwa noch einen Verlag, er wird ihn sicher bald finden.

Es bleiben aber auch Fragen offen. Wann ist etwas "konventionell" erzählt? Leidet die Jury an "Ambivalenzfetischismus"? Dass heuer auffällig viele Texte aus der Ich-Perspektive im Bewerb waren, hat zwar nicht zu Nabelschauen geführt, doch zur Frage: Wie weit darf man mutmaßen, dass das Autoren-Ich in einen Text hineinreicht? Und wie sehr darf andererseits Identifikation seitens Juroren ein Urteilskriterium sein? Neuling Thomas Strässle hat sich als besonnener Schweizer gut in die Jury gefügt, Mithu Sanyal war als zweiter Neuzugang eher auf der emotionalen Seite und argumentierte etwas zu oft mit: "Ich liebe diesen Text" oder sie fühle sich nicht als Zielgruppe – ­gerade weil sie selbst Texte gebracht hatte, die konservativeres Publikum herausfordern konnten. (Michael Wurmitzer, 2.7.2023)