Die Politik sollte bei den Herausforderungen unserer Zeit vorangehen, die Menschen bilden und bewegen, schreibt Josef Christian Aigner, Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker, in seinem Gastkommentar.

Auf dieser Illustration steht eine Frau mit den Händen auf den Hüften über einem schmelzenden Planet Erde.
Wie verantwortungsvoll gehen wir mit dem Planeten und kommenden Generationen um?
Illustration: Getty Images

"Strände in Bibione und Jesolo von Unwetter zum Teil weggespült" "EU-Daten: Juli heißester je gemessener Monat" "Weltmeere seit Monaten außergewöhnlich warm" – "Tote nach schweren Unwettern in USA" – "Extreme Hitzewelle beendet Welt-Pfadfindertreffen in Südkorea" – "Experten: häufigere Wetterextreme wie diese eindeutig Folge des Klimawandels".

Das waren etwa die Meldungen von nur einem Tag im August in den diversen Onlinemedien zur aktuellen Lage umwelt- und wetterbedingter Katastrophen weltweit, wie wir sie fast täglich ins Haus geliefert bekommen. Reicht das nicht, um endlich entschlossener tätig zu werden? Unser Herr Bundeskanzler aber hat scheinbar "Besseres" zu tun: Er jagt mit seiner von allen Kommentatoren als unnütz bezeichneten "Bargeld in die Verfassung"-Initiative lieber Wählerinnen und Wählern der FPÖ nach.

Kein Besuch

Kaum zu glauben ist es, dass der Kanzler keine Zeit und keinen Sinn dafür hat, den Opfern der Umweltkatastrophen in Kärnten oder der Steiermark einen anteilnehmenden Besuch abzustatten. Oder wenigstens ein paar Worte des Beistands oder Mitgefühls in den Medien! Warum? Weil das zu sehr an einem Eingeständnis der bisherigen Versäumnisse in der Klimapolitik (Klimaschutzgesetz!) anstreifen würde? Weil man indirekt zugeben würde, dass alleine auf eine "moderne" technologische Bewältigung der Klimakrise zu setzen ein Irrtum ist? Ein Irrtum der hohen Politik? Geht nicht?

Dagegen wurden von den ÖVP-"Normalos" Klimaaktivistinnen und -aktivisten, deren wissenschaftliche Unterstützerinnen und Unterstützer, NGOs und besorgte elterliche und großelterliche Privatiers mit entwertenden Adjektiva von "kriminell", "terroristisch" über "naiv" bis hin zu "nicht normal" abgestempelt. Nun gibt die Gewalt der Natur den Protestierenden aber leider immer deutlicher recht. Am Ballhausplatz scheint das noch nicht angekommen zu sein.

Umwelt-Ignoranz

Aber auch einzelne führende SPÖler gefallen sich in Umwelt-Ignoranz: wenn etwa die von allen Expertinnen und Experten als wirksame CO2-Reduktion empfohlene Forderung nach Tempo 100 auf Autobahnen mit Verweis auf eine vermutete "Mehrheit" in Partei und Bevölkerung abgelehnt wird. Die "Mehrheit der Bevölkerung" – vielleicht will die ja sogar Tempo 160 oder Heizöl und Gas weiter nach Lust und Laune verheizen? Schielt man dann auch auf "demokratische" Mehrheiten? Hätte nicht Politik die Aufgabe, die Menschen zu bilden, zu bewegen, voranzugehen und – die Sozialdemokratie zuvorderst – die sozial Schwächeren, die bei allem ökologischen und ökonomischen Desaster mehr draufzahlen, zu schützen?

Was aus dem Blick gerät, ist der Bildungsauftrag, den jede Politik als "Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens" auch hat. Er wird durch den zunehmenden Hang zum Wählerstimmen heischenden Populismus Schritt für Schritt zu Grabe getragen. Gestaltung aus politischer Verantwortung hieße ja, die nach Fachexpertisen notwendigen Maßnahmen zeitnah einzuleiten, die dem Gemeinwohl und dessen Schutz dienen. Da spielt eine "Mehrheit" eigentlich keine Rolle, wenn aufgrund weltweit einhelliger Empfehlungen von Fachleuten gegen die Erderwärmung schnell etwas geschehen muss – auch wenn manche dazu nicht applaudieren. Die Berufung auf irgendwie begründete Mehrheitsmeinungen (erst recht auf den "Hausverstand") bei Angelegenheiten, die nachweislich dem Land und den Menschen schaden, ist eigentlich nur eines: verantwortungslos, dem Land und vor allem kommenden Generationen gegenüber.

Politische Verantwortung

Eine Politik, die vor lauter Anbiederung an die Wählerinnen und Wähler ihren Bildungsauftrag aufgibt, gibt letztlich auch jede Moral und Verantwortung auf. Denn eingestanden oder nicht, handelt sie letztlich wider besseres Wissen. Wer in Zeiten wie diesen Österreich zu einem "Autoland" erklärt und die nachgewiesenen und sich immer stärker zeigenden Bedrohungen ignoriert, verkennt die Probleme des Planeten, der unser einziger ist.

Man sollte meinen, die Schlagzeilen würden reichen, um die Politik aus dem klimapolitischen Tiefschlaf zu rütteln – und wenn immer noch nicht, wäre wenigstens Mitgefühl mit den Opfern des Klimawandels angemessen und anständig. (Josef Christian Aigner, 13.8.2023)