Die mikroökonomische Ebene sollte nicht ausgeblendet werden, erinnert der Ökonom Kurt Bayer in seinem Gastkommentar.

Zwei Hände, eine links, eine rechts, dazwischen schwebende Münzen
Wirtschaften entwickeln sich nicht im luftleeren Raum. Unterschiedliche Interessen wirken auf sie ein.
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Daniel Gros, ein ausgewiesener Kenner der EU-Politik, versucht in seinem Gastkommentar "Warum hält die Inflation weiter an?" den Notenbanken die Hauptschuld am Weiterbestehen allzu hoher Inflation zuzuschieben. Das wichtigste Argument jener, die sogenannte Angebotsschocks, also den Anstieg der Fossilpreise, den Ukrainekrieg oder die Umorientierung der Wertschöpfungsketten für die hohe Inflation verantwortlich machen, meint er damit zu entkräften, dass all diese Faktoren in der Zwischenzeit sich wieder "normalisiert" hätten und daher für das Weiterbestehen der Inflation nicht verantwortlich sein könnten. Er sollte einmal mit Unternehmen reden oder Befragungsergebnisse studieren, die zumindest sein Argument der normalisierten Wertschöpfungsketten widerlegen würden.

Einzig die hohen Wertpapierkäufe der Notenbanken, die über die notwendige Zeit des Wiederaufbaus der Wirtschaften nach der Corona-Krise angedauert hätten, wären mit der schon von US-Wirtschaftswissenschafter Milton Friedman festgestellten Verzögerung von zwölf bis 24 Monaten jetzt inflationstreibend geworden, scheibt Gros und gibt auch noch ein wenig den Fiskalmaßnahmen, den riesigen Programmen, vor allem in den USA, aber auch Europa, die Schuld.

Gestiegene Margen

Es ist traurig, dass Makroökonomen wie Gros offenbar die Mikroökonomie vollkommen vergessen haben. Gros wundert sich zwar, dass "die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz angespannter Arbeitsmärkte Reallohnverluste hingenommen hätten", ignoriert aber vollkommen die Auswirkungen des Preissetzungsmechanismus der Unternehmen.

Preise steigen ja nicht, wie "Manna vom Himmel fällt", sondern werden von Unternehmen – je nach Marktmacht und natürlich unter Berücksichtigung ihrer Kostensituation – "gesetzt", also gemacht. Und, wenn wie Gros meint, die Energiepreise wieder auf dem Niveau von vor der Krise sind, wenn die Löhne nicht adäquat gestiegen sind, dann bedeuten höhere Preise nur, dass die "Margen", also die Gewinne der Unternehmen, gestiegen sein müssen.

Gros weist richtig auf "Asymmetrien" hin, auf Deutsch, dass sich die üblichen Mechanismen der Märkte offenbar gedreht haben. Die Covid-, Lebenshaltungskosten-, Kriegs-, Klima- und soziale Krise haben offenbar die Marktmacht der Unternehmen gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so gestärkt, dass sie auch bei nunmehr wieder sinkenden Kosten diese nicht "weitergeben" in niedrigeren Preisen oder die Löhne erhöhen, sondern diese als höhere Gewinne lukrieren.

Weniger Wettbewerb

Alle Informationen deuten darauf hin, dass sich die Unternehmenskonzentration in der Wirtschaft in den letzten Jahren erhöht hat – dazu tragen nicht unwesentlich die rekordverdächtigen Unternehmenszusammenschlüsse und -aufkäufe bei –, sodass das Ideal der "freien Marktwirtschaft" – starker Wettbewerb – offenbar zunehmend ausgehebelt wird und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund der massiv posaunten Krisenängste ihre Lohnforderungen zurückschrauben.

Also Gros und den anderen Makroökonominnen und Makroökonomen ins Stammbuch geschrieben: Vergesst den Preissetzungsmechanismus nicht, vergesst nicht die Konzentrationszunahme, vergesst vor allem nicht die all dies treibenden Machtverhältnisse.

Kein luftleerer Raum

Wirtschaften entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, sondern getrieben von Interessen und Aushandlungsprozessen. Es ist sehr gut möglich, dass sowohl die Geldpolitik mit ihrem massiven Aufbau der Bilanzen der Notenbanken als auch die Fiskalpolitik mit ihren oft breitgestreuten Corona-, Inflations- und Kriegshilfen ihren Beitrag zur hohen Inflation leisten, aber Haupttreiber sind doch jene, die die Preise setzen. Einzig jene Länder, in denen die Politik in die Preissetzungsmechanismen eingegriffen hat – für Marktwirtschafter ein Horror –, haben es geschafft, die Inflationsraten in Richtung der gewünschten zwei Prozent zu drücken. (Kurt Bayer, 23.8.2023)