Vor einigen Tagen habe ich mit Familienangehörigen einer entführten Geisel gesprochen. Eine Mutter schilderte unter Tränen die Sehnsucht nach ihrer 19-jährigen Tochter. Am 14. November 2023 fanden israelische Soldaten die Leiche der 19-Jährigen im Gazastreifen, misshandelt und getötet. In allen Ländern Europas demonstrieren die Menschen für die Hamas und gegen Israel. Da wird "From the River to the Sea" oder "Israel, Frauenmörder" gerufen.

Israel Gaza Demonstrationen
Weltweit finden Pro-Palästina-Demonstrationen statt – und sorgen für Kritik.
Foto: IMAGO/Jeroen Jumelet

Kein Wort über den 7. Oktober, kein Wort über die unmenschliche Barbarei der Hamas. Kein Wort über die Gräueltaten der Hamas. Keine Silbe über den zynischen Missbrauch der palästinensischen Zivilbevölkerung als Schutzschilde, Waffenlager in Spitälern, Raketenabschussrampen in Schulen und auf Kinderspielplätzen. Und all jene, die jetzt so aufgeregt demonstrieren, waren sehr leise, als hunderttausende syrische Zivilistinnen und Zivilisten vom Assad-Regime mit russisch-iranischer Hilfe umgebracht wurden. Kein Wort zum anhaltenden Morden in der Ukraine. Diese Scheinheiligkeit und diese doppelten Standards sind unerträglich.

Sorge und Angst

Und wie reagieren die jüdischen Menschen? Sie sind besorgt, sie haben Angst, Schutzmaßnahmen werden massiv verstärkt, Mütter lassen ihre Kinder nicht in die jüdische Schule, Menschen trauen sich nicht aus dem Haus, vor allem jene, die man als Jüdinnen und Juden erkennt. Viele meinen, keine Zukunft für ein jüdisches Leben in Europa zu sehen, und haben ihre Heimatländer verlassen oder spielen mit dem Gedanken. Wie lange dauert es, bis die verbliebenen 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden Europa den Rücken kehren?

In den letzten Jahrzehnten sind 20 Millionen Muslime nach Europa gekommen. Eine Vielzahl davon hat ihren Antisemitismus und ihre Werte mitgebracht und zu einem Teil nicht abgelegt. Sie sind nicht die einzigen Antisemiten, aber sie stehen in den letzten Wochen im Vordergrund, unterstützt von Linksextremen oder Ewiggestrigen. Das alles ist für viele Jüdinnen und Juden schwer zu ertragen. Politik und Medien sprechen zwar eine eindeutige Sprache, verurteilen jede Form des Antisemitismus und verstärken Sicherheitsmaßnahmen. Es wäre aber die Aufgabe der in Europa lebenden Menschen, Regierungen und Zivilgesellschaften, den Erklärungen endlich auch Taten folgen zu lassen.

Ein Asylstatus muss an Integration gekoppelt werden. Menschen, die zu uns kommen, müssen wissen, dass sie sich an unsere Gesetze, Normen und Werte halten müssen. Dazu muss es entsprechende Gesetze und Maßnahmen von staatlicher Seite geben, ein Angebot, das über das Erlernen der Sprache weit hinausgeht, eine individuelle Überprüfung, ob die Integrationsmaßnahmen auch erfolgreich waren, und dies alles gekoppelt mit den diversen Unterstützungen, Sozialleistungen und letztendlich dem Erwerb der Staatsbürgerschaft.

Wir müssen letztlich mehr Geld in die Hand nehmen, mehr Personal für Behörden und Gerichte, Programme in Schulen implementieren, nicht nur einige Workshops. Wir dürfen Lehrerinnen und Sozialarbeiter nicht allein lassen, wir – die Mehrheitsgesellschaft – müssen für unsere Werte einstehen, kämpfen! Auf der anderen Seite braucht es auch die Bereitschaft der Asylsuchenden. Und jene, die Integration ablehnen und es vorziehen, auch in zweiter oder dritter Generation in einer Parallelgesellschaft zu leben, müssen etwas verlieren.

Möglichkeiten ausschöpfen

Natürlich brauchen wir solche Lösungen europaweit. Wer zu uns kommt, muss daher wissen, dass Antisemitismus, Diskriminierung von Frauen oder queeren Personen, Verbreitung von Hass und Gewalt rechtliche Folgen nach sich ziehen. Es ist dabei nicht notwendig, hunderttausende Menschen in den Flieger zu setzen und nach Syrien zurückzuschicken. Es würde durchaus genügen, an den schlimmsten Auswüchsen ein Exempel zu statuieren, den Asylstatus abzuerkennen oder bestimmte staatliche Leistungen zu streichen. Derzeit kommt es aber oft zu einem negativen Asylbescheid, der ohne Folgen bleibt. Grund dafür sind mangelnde Abkommen mit den Herkunftsländern.

Sehr oft sind es aber auch die obersten Gerichte in Österreich, die Länder wie Ägypten und Türkei als unsicher erklären, was eine Abschiebung verhindert. Sehr oft wird der Rechtsstaat missbraucht. Jene, die das ausnützen, sollte man bekämpfen. Natürlich werden wir keine Reform der Menschenrechte zum Thema Asyl erleben, aber Europa müsste angesichts der Entwicklungen die bestehenden Möglichkeiten voll ausschöpfen. Sonst wird es bald zu rechtsextremen Regierungen in zahlreichen europäischen Ländern kommen. Dann ist Europa verloren! (Ariel Muzicant, 17.11.2023)