Der damals suspendierte Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek am 3. Mai 2022 als Auskunftsperson im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss.
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Seit Dienstagabend ist Christian Stocker der Mann der Stunde in der Volkspartei – als Generalsekretär ist es sein Job, an vorderster Front auszurücken, um Angriffe auf die eigene Partei abzuwehren. Und die gibt es seit Bekanntwerden des heimlich aufgenommenen Gesprächs von Christian Pilnacek zuhauf. Der vor einem Monat verstorbene Justiz-Sektionschef hatte im Juli 2023 in einem Wiener Innenstadtlokal von Wünschen der ÖVP, "Ermittlungen abzudrehen" und Hausdurchsuchungen zu verhindern, erzählt. Explizit nannte Pilnacek Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), der einmal mehr im Zentrum von Vorwürfen gegen die ÖVP steht und sich abermals mit Rücktrittsaufforderungen der gesamten Opposition und des grünen Koalitionspartners konfrontiert sieht. Justizministerin Alma Zadić (Grüne) kündigte prompt eine Untersuchungskommission zu den Pilnacek-Enthüllungen an. Diese soll für umfassende Aufklärung sorgen.

Doch zurück zu Stocker: Innerhalb von 15 Stunden stellte dieser sich gleich dreimal den Medien. Dienstagabend trat er in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz im Parlament vor Medienvertreterinnen und -vertreter, drei Stunden später saß er in der "ZiB 2", Mittwochvormittag lud er schließlich Journalistinnen und Journalisten in die Parteizentrale in der Lichtenfelsgasse zu einer Pressekonferenz.

Wer seine Auftritte verfolgte, für den kristallisierte sich schnell heraus, mit welcher Verteidigungsstrategie Stocker die ÖVP samt Sobotka aus der Misere ziehen will und das Feuer am Dach zu löschen gedenkt. "Richtschnur" für Stocker sei nicht der Inhalt der Tonaufnahme, sondern das, was Pilnacek als Auskunftsperson unter Wahrheitspflicht im Ibiza- und ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss ausgesagt habe. Dort soll er nämlich Gegenteiliges gesagt haben als bei dem heimlich aufgezeichneten Gespräch. Zuvor verwies bereits Sobotka in einer Stellungnahme darauf, dass er nie mit Pilnacek zu Verfahren, Ermittlungen und dergleichen mehr gesprochen habe – und untermauerte seine Aussage mit dem Verweis, dass Pilnacek das auch selbst unter Wahrheitspflicht im Untersuchungsausschuss bestätigt habe. Am Mittwoch bekräftigte schließlich auch Kanzler Karl Nehammer, dass Pilnacek in Untersuchungsausschüssen unter Wahrheitspflicht klar gesagt habe, dass es keine Interventionen gegeben habe.

"Schauprozess" und "Unterstellungsausschuss"

Dass sich nun ausgerechnet die ÖVP auf die Wahrheitspflicht im Untersuchungsausschuss beruft, ist bemerkenswert. War es doch vor allem die Kanzlerpartei, die in den vergangenen Jahren das parlamentarische Kontrollinstrument vehement und lautstark kritisierte. Dort gehe es wie bei der "Löwinger-Bühne" zu, ätzte etwa die ehemalige Landwirtschaftsministerium Elisabeth Köstinger. Der türkise Fraktionsführer Andreas Hanger sprach abschätzig von einem "Unterstellungsausschuss". Als "Schauprozess", ja sogar als "großangelegtes parteipolitisch motiviertes Manöver" bezeichnete die ÖVP den letzten U-Ausschuss, der mutmaßliche Korruption in türkisen Gefilden aufdecken sollte.

Die Volkspartei war es auch, die sich eigentlich für ein Ende der Wahrheitspflicht im U-Ausschuss starkgemacht hatte. "Bei uns hat jede Person, die Auskunftsperson ist, eine ungeheure Sorge, dort etwas Falsches zu sagen, weil sie dort unter Wahrheitspflicht steht", argumentierte etwa Nationalratspräsident Sobotka, der kraft seines Amtes auch die Vorsitzführung innehatte, eine Abschaffung. Sobotka war es zudem, der angesichts der teils eskalierenden Stimmung in U-Ausschüssen einmal im Interview mit dem STANDARD sagte: "Da ist keiner ein Heiliger."

Aussage gegen Aussage

Doch um welche Aussagen von Pilnacek geht es eigentlich, die die ÖVP nun wie einen Schutzschild vor sich herträgt? In einer Aussendung bezieht sich die Volkspartei auf fünf von Pilnacek in den beiden Untersuchungsausschüssen getätigte Aussagen. Zwei Beispiele: So habe Pilnacek 2020 im Ibiza-U-Ausschuss auf die Frage, ob es irgendjemanden gegeben habe, der ihn jemals darauf angesprochen habe, ein Auge auf ein Verfahren zu werfen, mit Nein geantwortet. Im Jahr 2022 habe Pilnacek im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss auf die Frage, ob es konkrete Behinderungen der Ermittlungen gegeben habe, geantwortet, "wenn Sie mich über konkrete Behinderungen fragen: nein", außerdem habe er, "wo ich die Fachaufsicht hatte, keine Wahrnehmungen über politische Beeinflussungen" gehabt.

Aber so eindeutig ist die Sache nicht. Im Mai vergangenen Jahres wird Pilnacek im ÖVP-U-Ausschuss von den Grünen mit Zeilen konfrontiert, die er einer Juristin geschrieben habe: "Ich habe in den zehn Jahren der Leitung der vormaligen Sektion IV niemals einen politischen Druck weitergegeben, ganz im Gegenteil." Von wem er Druck bekommen haben soll, wollte der ehemals mächtige Beamte im Justizministerium aber auch nach mehrmaliger Nachfrage nicht sagen. Aus Sicht von Neos-Mandatar Douglas Hoyos widerlegt das aber "schwarz auf weiß" die ÖVP-Behauptung, wonach Pilnacek Interventionsversuche dezidiert ausgeschlossen habe. Vielmehr habe er sich entschlagen und sei ausgewichen, "um nicht wissentlich die Unwahrheit zu sagen".

Schnappt die Hintermänner

Mit dem Inhalt der Aufzeichnung will sich die ÖVP jedenfalls nicht beschäftigen, vielmehr will sie Jagd auf mögliche Hintermänner machen. Diese Verteidigungslinie wiederum erinnert frappant an das Ibiza-Video, wo es Teilen der FPÖ auch weniger darum ging, sich mit dem darin Gesagten auseinanderzusetzen, als die Hintermänner dingfest zu machen.

Stocker sprach am Dienstag von Geheimdienstmethoden. Die Hintergründe zu "diesem Tonband und den Methoden, die an den russischen Geheimdienst erinnern", müssten aufgeklärt werden. Er will wissen: Wer steckt "hinter diesen KGB-Methoden", und was war "das Motiv"? Die Verantwortlichen vermutet er jedenfalls in der Opposition: "Von wo kommt’s denn her, wenn nicht von der Opposition?"

Bekannt ist bislang nur, dass bei dem Gespräch zwei Personen – ein Kurzzeitabgeordneter und ein deutscher Manager – anwesend gewesen sein sollen, eine dritte soll später dazugestoßen sein. Bei dieser dritten Person dürfte es sich um den stellvertretenden „Kurier"-Chefredakteur und "Profil"-Geschäftsführer Richard Grasl handeln. Grasl bestätigte dem Onlineportal Zackzack seine Anwesenheit. Er sei mit Freunden im Lokal gewesen und habe sich später zu der Gruppe um Pilnacek gesellt. Die nun auf Tonband veröffentlichten Aussagen habe er allerdings nichts wahrgenommen.

Am Mittwoch schließlich brachte der ÖVP-General mit dem früheren BZÖ-Politiker Stefan Petzner auch selbst einen Namen ins Spiel. Dieser hatte nämlich bereits in einem Interview vor ziemlich genau einem Jahr gesagt: "Auf den Wolfgang Sobotka kommt noch einiges zu, er weiß es nur noch nicht." Die Aussagen Petzners sind also gefallen, bevor das Gespräch im Juli 2023 aufgezeichnet worden war. Für Stocker stellen sich aufgrund dieser Aussagen dennoch einige Fragen, "die beantwortet werden müssen", etwa welche Informationen dieser hatte und von wem. Beschuldigen wolle er Petzner aber nicht, betonte Stocker. Der APA sagte Petzner daraufhin, dass seine Anwälte eine Klage wegen Kredit- und Rufschädigung gegen Stocker prüfen würden. Zudem verlangt dieser eine Gegendarstellung vom ÖVP-Generalsekretär.

Darüber hinaus überlegt auch die ÖVP rechtliche Schritte - nämlich gegen die noch nicht bekannten Hintermänner.

Sobotka will sich am Donnerstag äußern

Am Abend legte Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) Sobotka in der "Kleinen Zeitung" den Rücktritt zumindest indirekt nahe: "Wäre ich in der Situation von Sobotka, ich hätte meinen Hut genommen. Ich habe einen klaren moralischen Kompass", wurde Rauch zitiert.

Video von der Sobotka-Sonderpräsidiale: "Man muss den Schaden vom Amt abwenden"
APA/bes

Am Mittwochabend lud Sobotka im Anschluss an die Nationalratssitzung zu der von der Opposition gewünschten Sonderpräsidiale. Darin "erörterten die Vertreter:innen der Fraktionen und die Mitglieder des Präsidiums ihre Standpunkte zu den gegen Sobotka erhobenen Vorwürfen. Dies geschah in einer sachlichen Atmosphäre", teilte die Parlamentskorrespondenz gegen 21 Uhr mit. Sobotka kündigte an, sich am Donnerstag zu Beginn der Plenarsitzung zu erklären. (Jan Michael Marchart, Sandra Schieder, 22.11.2023)