Immer wieder wird nach islamistischen Terroranschlägen in politischen Debatten eine rhetorische Dauerschleife eingelegt: Muslime und Organisationen mögen sich von Terror und Extremismus distanzieren und dies auf Straßen, in Moscheen und in Medien laut kommunizieren. Diese Rufe sind nach dem Hamas-Terror verständlicherweise besonders deutlich zu vernehmen. Politische Talkshows, Interviews und sonstige mediale, wissenschaftliche und alltägliche Diskussionen kommen ohne Distanzierungsaufforderung kaum aus. Das Ritual haben sich auch politische Parteien, Regierungen und staatliche Stellen angeeignet.

Wien Demonstration Israel Gaza
Wie als Muslim damit umgehen? Demonstrierende in Wien wenige Tage nach dem Hamas-Angriff auf Israel.
Foto: EPA/CHRISTIAN BRUNA

In Deutschland fordert die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) von muslimischen Verbänden, von denen einige eine verurteilende Positionierung bislang vermeiden, eine Distanzierung vom Hamas-Terror; CDU und CSU verlangen von Zugewanderten zusätzlich ein aktives Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und kritisieren die Bundesregierung, zu wenig Druck in dieser Hinsicht auszuüben. Das Thema ist im Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzung angekommen.

In Österreich erwartet Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), dass sich Muslime von Hass und Antisemitismus klar distanzieren. Sie wendet sich dabei nicht spezifisch an Organisationen und Vereine, sondern pauschal an einzelne Bürgerinnen und Bürger, die in Österreich leben, hier geboren oder kürzlich zugezogen sind.

"In Deutschland schildern Muslime den Druck, sich unentwegt rechtfertigen zu müssen."

Distanzierungsaufforderungen haben unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, ob sie sich an Einzelne oder an Verbände richten. Der gemeinsame substanzielle Kern liegt darin, dass Extremismus und Terror als religiös motiviert, bedingt und im Namen von Religion verübt werden – Religion die Wurzel der Gewalt ist. Andere Interessen und Ideologien, wie sie etwa der türkische Präsident bedient, wenn er die Hamas als gewählte politische Partei und nicht als Terrororganisation qualifiziert, geraten dabei aus dem Blick.

Muslimische Organisationen sprechen für ihre Mitglieder und sind in gewisser Weise auch Ansprechpartner für den Staat. Sie sind politische Akteure. Diese Rolle bringt es mit sich, dass sie auf Ereignisse der Gewalt im Namen oder in der Nähe von Religion zu reagieren haben. Andernfalls wird ihr Schweigen als Unterstützung ausgelegt. Nach dem Hamas-Terror hat die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) rasch reagiert, die Attentate verurteilt und einen Appell an Muslime gerichtet, jegliche Form der Gewaltverherrlichung zu unterlassen. In Deutschland, wo es keine vergleichbare institutionalisierte Islam-Repräsentation gibt, verweigern einige Vereine und Geistliche, insbesondere türkische, eine verurteilende Positionierung.

Muslime unter Druck

Die Distanzierungsaufforderung bringt Menschen muslimischen Glaubens pauschal in die Nähe von Terror und Antisemitismus. Denn Distanzieren bedeutet im wörtlichen Sinne einen Abstand herzustellen, in diesem Fall zu Gewalt. Distanzierung macht folglich nur dann Sinn, wenn tatsächlich Nähe und Übereinstimmung vorliegen. Der Aufruf läuft demnach auf eine Unterstellung und auf Ab- und Ausgrenzung hinaus.

In Deutschland schildern Muslime den Druck, sich unentwegt rechtfertigen zu müssen für etwas, was sie individuell nicht zu verantworten haben und was sie nicht unterstützen. Indem sie sich immer wieder erklären müssen, fühlen sie sich als außerhalb der Gesellschaft gestellt. In Österreich gibt es zwar kaum Berichte über ähnliche Erfahrungen, was aber nicht heißt, dass nicht auch hierzulande analoge Dynamiken stattfinden.

Mehr Misstrauen

Schließlich ist die Distanzierungsaufforderung auch im Kontext innenpolitischer Zwecke zu sehen. Sie macht Menschen als Andere kenntlich und befeuert so das ohnehin bereits bestehende alltägliche Misstrauen, die Angst und Feindlichkeit gegenüber diesen Anderen, den Muslimen. Der Distanzierungszuruf ist ein weiterer Stein im Narrativ einer Politik gegen unwillkommene Migration.

Das Distanzierungsritual schafft einen spezifischen Reflexionsrahmen. Die tatsächliche Gleichzeitigkeit des menschlichen Leids wird hierarchisiert; neben den rasch ansteigenden antisemitischen Vorfällen und Ressentiments erhalten die zeitgleich verstärkt auftretenden antimuslimischen Vorfälle ein geringeres mediales Echo, gelten als weniger skandalös. Diese gefühlte und/oder tatsächliche Nachrangigkeit ist in der gegenwärtigen Konfliktsituation dem Zusammenleben recht abträglich. Deshalb sollte Politik kalmieren und die Verführungen, selbst diese Situation für migrationspolitische Wir-Andere-Konfrontationen zu gebrauchen, auf Distanz halten. (Sieglinde Rosenberger, 13.12.2023)