Eigentlich hätte man erwarten können, dass die Welt den Pogrom vom 7. Oktober und die beteiligten palästinensischen Organisationen einhellig verurteilt, doch weit gefehlt. Viele Regierungen begrüßten den Anschlag als gelungene Aktion gegen den Erzfeind Israel und klagten diesen als eigentlichen Schuldigen an. Nach Beginn der israelischen Militäroffensive dauerte es nicht lange, bis altbekannte Parolen von einem Genozid an den Palästinensern durch den "Kindermörder Israel" zum Besten gegeben wurden. Genau dies hatte die Hamas beabsichtigt.

Israel Gaza Demonstrationen Universitäten
Verstörende Kundgebungen gab es nach dem 7. Oktober an vielen Universitäten, wie hier an der Penn State in den USA.
Foto: IMAGO/Paul Weaver / SOPA Images

Auch in Europa kam es zu öffentlichen Solidarisierungen mit radikalen Palästinensern. Vor dem Auswärtigen Amt in Berlin versammelten sich junge Demonstrierende aus besserem Hause und forderten, Palästina möge von der deutschen Schuld befreit werden. Die Klima-Ikone Greta Thunberg skandierte bei einer Kundgebung in Amsterdam "No climate justice on occupied land", und die Sektion Black Lives Matter Chicago warb gar mit einem Plakat, das stilisierte Hamas-Terroristen mit motorisierten Gleitschirmen beim Anflug auf das Gelände des Supernova-Festivals zeigte.

Neue Leitideologie

Ursache dieser gespenstigen Täter-Opfer-Umkehr ist die sogenannte postkoloniale Theorie, die in den Geisteswissenschaften mittlerweile zur Leitideologie geworden ist. Ihre Vertreter kultivieren eine ausgeprägte Feindschaft gegen den Westen, den sie für alle Übel der Welt verantwortlich machen. Ungebrochen durch die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien reproduziere dieser einen imperialen Herrschaftsanspruch und setze seine Machtaspirationen mit brutaler Gewalt durch. Doch nicht nur die westlichen Staaten, sondern auch seine Bewohnerinnen und Bewohner, sofern sie weiß sind, werden einer kolonialen Denk- und Handlungsweise bezichtigt.

Israel wird in dieser Konstruktion als "weißer Siedlerkolonialismus" und als Bollwerk des Westens in der arabischen Welt gesehen. Palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten gelten hingegen als natürliche Verbündete im antiimperialistischen Kampf und werden gern als Referierende zu postkolonialen Vortragsreihen eingeladen, wie jüngst auch an der Universität Wien, wo die Hochschulleitung die Veranstaltung stoppte, bevor sie zum Skandal werden konnte.

Ethische Standards

An einigen US-amerikanischen Eliteuniversitäten hat die Dämonisierung Israels bereits einen eliminatorischen Antisemitismus zum Vorschein gebracht, der bestürzen muss. So antworteten die Präsidentinnen von Harvard, der University of Pennsylvania und des MIT auf die Frage, ob Aufrufe zum Völkermord an Jüdinnen und Juden gegen die ethischen Standards verstießen, dies hänge vom Kontext ab. Sowohl in den USA als auch in europäischen Ländern werden jüdische Studierende eingeschüchtert und bedroht. In Deutschland verweigerte man ihnen am Donnerstag den Zutritt zu einem Hörsaal und ließ Erinnerungen an die Nazi-Herrschaft wachwerden.

Das Narrativ des rassistisch-kolonialistischen jüdischen Staates ist nun unmittelbar an eine muslimische Erzählung anschlussfähig, die fortwährend das Trauma des eigenen Bedeutungsverlustes beschwört, der nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches eingetreten sei. Wenn der Leiter der türkischen Religionsbehörde in einer Freitagspredigt sagt, Israel sei der rostige Dolch im Körper der islamischen Geografie, dann lässt sich dies problemlos in eine linke antiisraelische Rhetorik überführen.

Untermauert wird sie bei Vertretern des politischen Islam, der auch die Hamas angehört, mit einer religiösen Judenfeindschaft, die bereits im Koran und in den Hadithen nachweisbar ist. Wenn die Hamas in ihrer Charta schreibt, dass Friede erst einkehre, wenn der letzte Jude auf Erden getötet werde, dann stimmen linke Israel-Feinde dem natürlich nicht zu. Wenn diese jedoch zu den Massakern schweigen, machen sie sich implizit auch mit den islamistischen Vernichtungsplänen gemein.

Aufs Hausrecht pochen

Anders als im rechtsextremistischen Antisemitismus werden im linken und muslimischen Antisemitismus keine Rassentheorien bemüht, um Morde an Jüdinnen und Juden zu rechtfertigen. Die Ressentiments, auf denen sie basieren, sind politischer und religiöser Natur – im Ergebnis aber dennoch tödlich. Beschönigungen sind fehl am Platz. Wer es ernst meint mit dem Versprechen, dass jüdisches Leben sicher sein soll, muss alle Formen des Antisemitismus gleichermaßen bekämpfen.

Aufrufe zu Judenhass und öffentliche Vernichtungsdrohungen müssen umgehend sanktioniert werden, Universitäten sind gehalten, ihre jüdischen Studentinnen und Studenten zu schützen, und sollten dabei von ihrem Hausrecht Gebrauch machen. Letztendlich ist auch die politische Bildung gefragt. Der Nahostkonflikt muss in den Schulen behandelt werden, damit die antisemitische Mythenproduktion ein Ende hat, und an den Hochschulen sollte die postkoloniale Theorie einer kritischen Revision unterzogen werden. Ihre Gefolgschaft behauptet zwar, zu einer gerechteren Welt beitragen zu wollen, doch sie hat vor allem antisemitische Stereotype bedient und einem neuen Rassismus das Wort geredet. (Susanne Schröter, 17.12.2023)