Von der Leyen (links im Bild), Selenskyj (rechts)
Für Präsident Wolodymyr Selenskyj ein "Sieg", für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine "strategische Entscheidung": der im Dezember beschlossene Start der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine.
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Die Staats- und Regierungschefs brauchten acht Stunden – für EU-Verhältnisse eine relativ kurze Zeit –, um sich auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu einigen. Obwohl diese Entscheidung einen großen Sieg für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj darstellt, hatte sie einen hohen Preis: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán blockierte die Auszahlung von 50 Milliarden Euro an Hilfsgeldern, die die Ukraine dringend für ihre Verteidigung benötigt. Während sich der Krieg seinem zweiten Jahrestag nähert, befindet sich Europa in einer Zwickmühle.

Die Ukraine-Strategie der EU stützt sich auf drei Hauptpfeiler. Erstens haben sich die Staats- und Regierungschefs auf eine Definition von Sieg geeinigt, die die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine einschließt. Zudem haben sie zugesagt, die Ukraine so lange zu unterstützen, bis sie alle Gebiete zurückerobert hat, die in der Anfangsphase des Krieges von Russland besetzt wurden. Zweitens hat sich die Russland-Politik ganz auf Wirtschaftssanktionen und internationale Isolierung konzentriert. Drittens hat die Abhängigkeit Europas von US-amerikanischer Unterstützung ein seit dem Kalten Krieg nicht mehr gekanntes Ausmaß erreicht. Die Regierung von Präsident Joe Biden hat beträchtliche diplomatische, wirtschaftliche und militärische Ressourcen eingesetzt, um die Sicherheit und Stabilität Europas zu gewährleisten.

Die Ukraine konnte so etwa 82 Prozent ihres Territoriums vor der Invasion halten, während Russland erhebliche Verluste an Personal und Ressourcen hinnehmen musste. Darüber hinaus ist das transatlantische Bündnis, das während der Amtszeit des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump als so gut wie tot galt, heute stärker als je zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges.

Patt auf dem Schlachtfeld

Doch alle drei Säulen sind ins Wanken geraten. Zwar wurde Orbáns Veto vereitelt, doch ist diese Entscheidung eher ein symbolischer Sieg für die Ukraine als ein praktischer, da sie nichts an der anhaltenden Verzögerung der wichtigen Finanzhilfe ändert. Auf den Schlachtfeldern hat der Krieg eine Pattsituation erreicht, die Russland begünstigt, da die ukrainische von Anfang an mit unrealistischen Erwartungen belastete Gegenoffensive ihre erklärten Ziele nicht erreicht hat.

Darüber hinaus wurde die Wirksamkeit der Sanktionen infrage gestellt, nachdem eine Untersuchung des Nachrichtenportals Politico ergeben hatte, dass diese weit weniger verheerend waren als ursprünglich angenommen. Während der russische Präsident Wladimir Putin durch den Nahen Osten reist und damit droht, neue Fronten in Europa zu eröffnen, zeichnet sich in Washington ein Konsens darüber ab, dass die USA nach den Präsidentschaftswahlen 2024 mit Moskau zusammenarbeiten müssen.

"Die Definition eines ukrainischen Sieges sollte sich nicht auf die von Russland zurückeroberten Gebiete beschränken."

Das schwindende Interesse der USA stellt die größte Bedrohung für die Stabilität Europas dar. Die größte Sorge der europäischen Staats- und Regierungschefs ist die mögliche Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus im Jahr 2025. Doch das Problem geht über Trump hinaus. Sogar die Biden-Administration scheint ihren Ton geändert zu haben. Bei einer Pressekonferenz mit Selenskyj führte Biden kürzlich die neue Formulierung ein, dass die USA die Ukraine unterstützen würden, "solange wir können", statt "solange es dauert".

Watch: Biden and Zelenskyy hold joint press conference on Ukraine war funding | NBC News
Pressekonferenz im Weißen Haus von Joe Biden und Wolodymyr Selenskyj
NBC News

Bidens rhetorische Wende macht das Dilemma deutlich, in dem sich die europäischen Verbündeten der Ukraine befinden, und unterstreicht die dringende Notwendigkeit für Europa, seine Strategie zu überdenken. Die Definition eines ukrainischen Sieges sollte sich nicht auf die von Russland zurückeroberten Gebiete beschränken. Der Charakter und die Identität der Nachkriegs-Ukraine sind ebenso wichtig. Sollte die Ukraine als lebendige Demokratie aus diesem Krieg hervorgehen und Mitglied der Nato und der EU werden, wäre dies ein spektakulärer Sieg, unabhängig von konkreten Gebietsgewinnen.

Neue Kanäle

Die westlichen Länder sollten sich darauf konzentrieren, die Ukraine bei der Verwirklichung dieser Vision zu unterstützen. Europa sollte der Ukraine helfen, ihre Wirtschaft und Rüstungsindustrie zu reformieren. Dies würde das Land in die Lage versetzen, finanziell tragfähige Mechanismen zu schaffen, um sich gegen russische Aggressionen zu verteidigen.

Diese Neudefinition des ukrainischen Sieges muss mit einem neuen Verständnis dessen einhergehen, was eine russische Niederlage ausmacht. Da es unwahrscheinlich ist, dass der Krieg mit Putin und seinen Kumpanen auf der Anklagebank in Den Haag enden wird, müssen sich die Staats- und Regierungschefs der EU den langfristigen Herausforderungen stellen, die der vielschichtige Konflikt zwischen Russland und Europa mit sich bringt, einschließlich einer Energiekrise, politischer Umwälzungen und geopolitischer Instabilität. Ein langwieriger Konflikt mit einem russischen Schurkenregime erfordert eine umfassende Strategie, die die Schaffung von Kanälen zum Verständnis und zur Antizipation der Absichten und Taktiken des Kremls einschließt.

Unhaltbare Regeln

Unabhängig davon, wer 2025 sein Amt im Oval Office antritt, muss Europa seine Abhängigkeit von den USA verringern. Das bedeutet, mehr für die Verteidigung auszugeben und eine effektive gemeinsame Strategie zu entwickeln. Einem einzelnen Mitgliedstaat zu erlauben, die gesamte außenpolitische Agenda des Blocks an sich zu reißen, wie es Ungarn getan hat, ist unhaltbar und unvereinbar mit dem Bestreben der EU, ihren Einfluss in einer multipolaren Welt zu behaupten.

Trotz dieser Herausforderungen könnte der Europäische Rat den Grundstein für eine neue Vision von Europa gelegt haben. Frankreich entdeckte eine neue Begeisterung für Osteuropa und die Erweiterung, Deutschland zeigte ein wachsendes Interesse an der Verteidigung. Sogar Italien scheint seine frühere Liebesbeziehung zu Russland hinter sich gelassen zu haben, und das Vereinigte Königreich nähert sich der EU langsam wieder an.

Die Zukunft des transatlantischen Bündnisses bleibt angesichts der bevorstehenden wichtigen Wahlen in Europa, den USA und Großbritannien in Bewegung. Um inmitten regionaler und globaler Veränderungen zu überleben, muss die EU diese Zeit der Ungewissheit und des Wandels nutzen, um eine Strategie zu entwickeln, die es der Union und der Ukraine ermöglicht, die Herausforderungen der kommenden Jahre zu meistern. (Mark Leonard, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 3.1.2024)