Grenzkontrollen sind im EU-Raum angesichts wachsender Fluchtbewegungen wieder an der Tagesordnung, Migration ist nicht nur mit Blick auf kommende Wahlen, sondern auch rund um die Geheimpläne Rechtsradikaler zur Vertreibung von Millionen Menschen ein großes Thema. Während die Zahl der Asylanträge, der Grenzübertritte beziehungsweise der neu in Europa ankommenden Migranten statistische und auch mediale Aufmerksamkeit erhält, bleibt eine Zahl oft im Dunkeln: Wie viele Menschen befinden sich bereits in Europa, die den Status "irregulärer Migrant" oder "irreguläre Migrantin" erfüllen?
Irreguläre – früher als illegal bezeichnete – Migration umfasst Menschen, die sich ohne Aufenthaltsrecht in einem Land befinden, unentdeckt in einem Land leben und nie Kontakt mit Behörden hatten oder die von einem Land nicht geduldet werden. Eine Schätzung des US-amerikanischen PEW Research Center verortete die Anzahl dieser Personen in der Europäischen Union zuzüglich des Vereinigten Königreichs, Islands, Liechtensteins, Norwegens und der Schweiz für das Jahr 2017 zwischen 3,9 Millionen und 4,8 Millionen Menschen, etwa eine Million davon waren Asylwerber und Asylwerberinnen.
Fragwürdige Erhebungsweisen
Die Studie wurde aufgrund der Erhebungsmethode – der sogenannten "residual method" – kritisiert. Dabei wird von der Gesamtzahl der Nichtstaatsbürger und Nichtstaatsbürgerinnen die Zahl der legal aufhältigen Nichtstaatsbürger und Nichtstaatsbürgerinnen abgezogen. "Im europäischen Kontext funktioniert das nicht so gut wie im amerikanischen", sagt Albert Kraler von der Universität für Weiterbildung Krems.
"Eine kontroverse Tatsache war auch, dass die Studie zwei Zahlen für Europa hervorgebracht hat", erklärt er. "Die Zahl inklusive Asylwerbern wurde hauptsächlich kommuniziert. Das Argument war, dass Asylwerber noch nicht komplett legal aufhältig sind, obwohl sie das nach unserem Verständnis während ihres Verfahrens sind."
Kraler ist Assistenzprofessor und Ko-Leiter des Zentrums für Migrations- und Globalisierungsforschung an der Universität für Weiterbildung Krems. Seit 2022 ist er für die Leitung des Projekts MIrreM, kurz für "Measuring Irregular Migration and Related Policies", verantwortlich. Das EU-Horizon-Projekt will zuverlässigere Schätzmethoden entwickeln, die eine qualitative Aussage über Größe und Merkmale der irregulär aufhältigen Bevölkerung zulassen.
Erschwerte Datenerhebung
"Im Rahmen der Migrationsstatistikverordnung der EU werden bestimmte Indikatoren im Bereich Migration von Eurostat regelmäßig gesammelt", sagt Kraler. So zum Beispiel die Anzahl der in Europa aufgegriffenen Migrantinnen und Migranten, Asylantragszahlen, abgelehnte Anträge, die Anzahl der Personen, die eine Rückkehrentscheidung erhalten oder tatsächlich ausreisen. "Wenn man sich diese Daten aber genau ansieht, erkennt man, dass die Daten eingeschränkt sind, weil sie Lücken haben."
Manche Personen stellen auf der Durchreise durch Europa in mehreren Ländern Asylanträge, die dann auch mehrmals gezählt werden. Ein weiteres Problem ist, dass sich die Rechtslage von Nation zu Nation unterscheidet. Wer als "irregulär" gewertet wird, variiert. Kraler bringt das Beispiel des Duldungsstatus, den es in Deutschland für Personen gibt, die nicht abschiebbar sind. Das italienische Pendant dazu wäre ein befristeter Aufenthaltstitel. "In ersterem Fall handelt es sich lediglich um einen Aufschub der Rückkehr, der eine Art vorläufigen legalen Aufenthalt darstellt, in letzterem um einen positiv definierten legalen Status." Ohne gesetzliche Harmonisierungen sei es schwierig, irreguläre Migration zu messen. Zudem handle es sich um eine fluide Definition.
Schnell von regulär zu irregulär
Wer regulär und wer irregulär in einem Land ist, kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, so zum Beispiel beim "Overstaying", wenn ein Touristenvisum ausläuft und Personen darüber hinaus in einem Land bleiben. MIrreM befasst sich nun mit der Daten- und Rechtsgrundlage von Migration in 20 Ländern weltweit, darunter zwölf EU-Länder. An dem großangelegten Projekt sind 17 Universitäten, NGOs und Forschungseinrichtungen beteiligt.
Die vier Hauptziele des internationalen Forschungsunterfangens: präzisere Daten zur Population, die von Irregularität betroffen ist, zu erarbeiten; die Entwicklung eines systematischen Verständnisses, wie Politik und Praxis migrantische Irregularität formen; der Austausch von Wissen durch die Etablierung von Netzwerken; und machbare Lösungen vor allem im Bereich des Bleiberechts. Bis 2025 will man die Ergebnisse der Forschung in einem Handbuch über Daten zu irregulärer Migration und einem zu Wegen aus der Illegalität zusammenfassen.
Diskussion über das Bleiberecht
"Die Frage nach dem Ausmaß der irregulär aufhältigen Bevölkerung ist insofern verknüpft mit dem Bleiberecht, als es darum geht zu erkennen, wie groß ihr Potenzial ist", sagt Kraler. "Wie viele Personen bedürfen einer Statusanpassung, weil sie schon sehr lange hier leben und womöglich auch gut integriert sind?" Die Details zur Ausformung dieses zweiten Forschungsschwerpunkts würden gerade konzipiert, im kommenden Jahr werden Untersuchungen in einzelnen Ländern durchgeführt.
"Was wir jetzt schon sagen können, ist, dass die Diskussion über das Bleiberecht unter dem Eindruck des momentanen Arbeitskräftemangels dynamischer gestaltet wird", sagt Kraler und betont, dass Europa einen Mangel nicht nur an Fachkräften erlebe, sondern generell an Arbeitskräften. Migration beziehungsweise Regularisierungen böten sich als Lösung an. Basierend auf einer umfassenden Kartierung der Regularisierungspraktiken in der EU sowie Fallstudien werden im Rahmen von MIrreM Szenarien entwickelt, um einzuordnen, wo Regularisierung als politische Lösung in Betracht gezogen werden kann. (Sarah Kleiner, 22.1.2024)