Frauen machen Handyfotos mit Putin-Pappfigur
Frauen schießen auf einer Moskauer Straße Fotos mit einer Pappfigur. Die zeigt den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der bis Sonntag noch zu einer Wahl seiner selbst aufgerufen hat.
Foto: EPA / Yuri Kochetkov

Es ist wie verhext. Der Teufel, getarnt als Professor der schwarzen Magie, spukt mit seinen finsteren Schergen durch die Straßen Moskaus. Er hat seinen wörtlichen Mordsspaß, wenn er Ungläubige über die Existenz Jesu Christi, den er mit seinem hebräischen Namen – Jeschua – nennt, belehrt. Und über die Gewissensbisse des Pontius Pilatus erzählt, der Jeschua wegen Falschaussagen Judas verurteilen musste, ihn aber ursprünglich begnadigen wollte. Jene, die dem finsteren Zauberer Voland nicht glauben oder im Weg stehen, werden getötet, verschwinden spurlos oder werden in eine Anstalt eingewiesen. Und mittendrin ein verbotenes Paar: ein verkorkster Schriftsteller und seine bezaubernde Geliebte, deren Liebe auch den größten Versuchungen widersteht.

Die fantastische Erzählung des in Kiew geborenen Michail Bulgakow – über den Meister und Margarita – ist einer der großen russischen Romane des letzten Jahrhunderts, eine irrwitzige Satire gerichtet gegen die skurrilen Überwachungspraktiken und das willkürliche System der atheistischen Sowjetunion, eine irdische Abhandlung zwischen Gut und Böse, inklusive Erlösung aller Beteiligter. Zugleich auch eine tiefgreifende Analyse menschlicher Abgründe und Sünden, hochgespitzt durch biblisch-historische Parabeln zur Gier und Feigheit. Und obwohl vor fast 100 Jahren geschrieben, frappieren die Allegorien gerade heute.

Großer Graben

Abseits der gruseligen Fiktion gibt es aber auch halbwegs gute Nachrichten: Der Krieg in der Ukraine wird bald enden. Natürlich ohne Sieger und Erlöste. Genau wie jener in Israel. Es werden dafür neue Konfliktherde ausbrechen, da Professor Voland nicht ruhen kann. Er macht weiterhin einfache Menschen zu willenlosen Handlangern, überall, zur gleichen Zeit. Er trieb sein Unwesen in den 1990er-Jahren auf den Straßen Sarajevos, während dessen Belagerung mehr als eintausend Kinder getötet wurden. Auch in Belgrad, Anfang Mai letzten Jahres, wo an einem Tag knapp ein Dutzend Schulkinder von einem 13-Jährigen ermordet wurden. Oder vor kurzem in Wien, als in wenigen Tagen so viele Frauen und Mädchen an Gewalttaten starben wie im gesamten Jahr zuvor.

Die deutsch-französische Sicherheitsexpertin Florence Gaub hat im April 2022 bei Markus Lanz im ZDF eine kühne Behauptung gewagt: Die Russen sind keine Europäer im kulturellen Sinne, sie hätten einen anderen Bezug zu Tod und Gewalt. Bei Russen gibt es nicht diesen liberalen und postmodernen Zugang zum Leben als ein Projekt, das jeder individuell für sich gestaltet. Gaub betonte, dass Russen anders damit umgehen, wenn Menschen sterben. Obwohl verallgemeinernde Aussagen immer schwierig erscheinen, so hat Gaub doch den Puls der Zeit getroffen, indem sie den großen Graben zwischen der russischen und europäischen Zivilisation erklären wollte. Simpel gefragt: Was ist ein Menschenleben wert? Hat es den gleichen Wert in Moskau, Wien oder zum Beispiel Sarajevo? Die Antwort liefert der Einzelne durch sein jeweils sehr persönliches Verständnis des Spannungsfelds zwischen Leben und Tod. Was hat das mit dem teuflischen Professor und Bulgakows liebenden Titelhelden zu tun?

Markus Lanz vom 12. April 2022, mit den erwähnten Aussagen von Florence Gaub ab Minute 26:15
ZDFheute Nachrichten

Europas Grenzen

Seitdem es die Idee eines geeinten, liberal-demokratischen und nach sozioökonomischen Marktregeln funktionierenden Europas gibt, wird auch der Frage nachgegangen, wo dessen Grenzen liegen. Ohne ein breit akzeptiertes Verständnis, was eine Werteunion überhaupt noch darstellt, kann man diese auch nicht verteidigen. Im Kontext der neu entfachten Debatte zur EU-Erweiterung, mit der Ukraine und Moldau auf der langen Wartebank und jetzt, wenn sogar Länder wie Armenien offen überlegen, ob sie nicht eine EU-Mitgliedschaft in Erwägung ziehen sollen, greifen die alten Definitionen der gemeinsamen Freiheiten, des Binnenmarkts leider zu kurz. Um weiterhin zu überleben, muss sich die Erweiterung neu erfinden – über den aktuellen geopolitischen Kontext hinaus.

"Der Autor liefert auch eine Lösung: die Liebe des und der Einzelnen."

In einer fiktiven Welt, in der Gewalt omnipräsent ist und wir Gefahr laufen, alle großen Errungenschaften und die bloße Existenz aller Akteurinnen und Akteure infrage zu stellen, liefert der Autor auch eine Lösung: die Liebe des und der Einzelnen. Umso notwendiger ist ein geeintes Europa der Zukunft, wo alle Individuen, Gesellschaften und Staaten willkommen sind, die ehrlich und selbstbewusst gegen Gewalt auf allen Ebenen eintreten. Umgelegt auf den österreichischen Mikrokosmos: Wie geht eine Gesellschaft mit Frauen und Kindern um, insbesondere wenn es darum geht, einer immer höheren Zahl an Femiziden entgegenzutreten? Wie verhalten wir uns als Einzelpersonen sowie die Zivilgesellschaft, wenn Schwächere und Ausgegrenzte unter Druck geraten? Und wie reagieren staatliche Strukturen und politische Vertreterinnen und Vertreter darauf?

Sogar Russland!

Vergessen wir einmal alle geografischen, historischen, religiösen, ethnisch-nationalen Trennwände und Interpretationen. Die Unterdrückung von Gewalt in all ihren Formen und Erscheinungen muss in Zeiten wie diesen der absolute gemeinsame Nenner und Ziel eines neuen Europas werden. Jede Gesellschaft, die dies aktiv angeht, verdient es, Teil von Europa zu sein und benötigt entsprechende Unterstützung. Sogar Russland! Es geht schließlich, weit über die Grenzen der Fiktion hinaus, um unser Zusammenleben, unsere Zukunft und das Leben von Generationen nach uns. Oft ist dies auch ein sehr schmerzvoller und langwieriger Prozess, für den viele ihr Leben lassen und politische Systeme umgewälzt werden müssen. Denn so paradox es auch erscheinen mag: Erst nachdem wir der Gewalt abgeschworen haben, können wir lernen, uns selbst zu verteidigen. (Filip Radunović, 16.3.2024)