(2024. Jenseits. Eine Schreibstube. Im Bühnenvordergrund, hinter einem mächtigen Schreibtisch, der Schriftsteller Max Brod, schreibend. Ein Stapel absendebereiter Briefe liegt neben ihm. Im Bühnenhintergrund, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab gehend, der Schriftsteller Franz Kafka. Diktat im Gange.)

KAFKA: – bedaure ich zutiefst, Ihnen Mühe bereitet zu haben, und bin doch zugleich überglücklich, dass Sie, Herr Regener, es auf sich genommen haben, in dem schönen Theater Rabenhof aus meinem Gekritzel vorzutragen, noch dazu in jenem Jahr, in dem sich, was Sie freilich nicht wissen können, mein Todestag zum hundertsten Male jährt. Erlauben Sie mir daher, Ihnen auf diesem Wege meinen innigsten Dank und meine Bewunderung auszusprechen und Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles erdenklich Gute zu wünschen. Ihr ergebener Franz Kafka.

(Brod schreibt fertig, faltet das Blatt, steckt es in ein Kuvert, klebt das Kuvert zu, adressiert es und legt es zu den anderen Briefen.)

KAFKA: Neues Blatt.

BROD (erschöpft): Bitte, Franz! Lass uns aufhören! Du diktierst mir jetzt seit vierzehn Stunden!

KAFKA: Ich sagte, neues Blatt. Wir sind noch lange nicht fertig.

(Brod nimmt seufzend ein neues Blatt Papier und legt es vor sich hin.)

KAFKA (diktiert): Sehr geehrter Herr Maurer! Wenngleich ich zutiefst bedaure, Ihnen Mühe bereitet zu haben, möchte ich doch nicht versäumen, Ihnen mitzuteilen, wie überglücklich es mich gemacht hat zu erfahren, dass Sie mein Gekritzel zum Anlass genommen haben, in dem schönen Theater Rabenhof einen Abend mit dem Titel "Maurer. Kafka. Komisch." (über welchen ich mit meinen Freunden herzlich gelacht habe) zu gestalten, überdies in jenem Jahr, in dem sich, was Sie freilich nicht wissen können, mein Todestag zum hundersten Male jährt. Erlauben Sie mir daher, Ihnen auf diesem Wege meinen innigsten Dank und so weiter und so weiter.

(Brod schreibt fertig, faltet das Blatt, steckt es in ein Kuvert, klebt das Kuvert zu, adressiert es und legt es zu den anderen Briefen.)

KAFKA: Neues Blatt!

BROD: Bitte, Franz! Ich kann nicht mehr!

KAFKA: Keine Widerrede! Schließlich ist alles deine Schuld! Du hättest uns all das ersparen können, aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Also los! Neues Blatt!

(Brod nimmt seufzend ein neues Blatt Papier und legt es vor sich hin.)

Szene aus Kafka-Verfilmung. Franz Kafkas Verlobte (und Max Brods Cousine) Felice Bauer links im Bild
Franz Kafka überhäufte auch seine Verlobte Felice Bauer, Max Brods Cousine, mit Briefen. Die Serie "Kafka" war jüngst im ORF zu sehen.
Foto: ORF / Superfilm

KAFKA (diktiert): Sehr geehrter Herr Schalko! Sehr geehrter Herr Kehlmann! Fast wage ich nicht, Sie, die doch gewiss Besseres zu tun wüssten, als ihre Zeit an das Lesen von Briefen zu verschwenden, mit diesen Zeilen zu behelligen, aber es erscheint mir doch meine Pflicht, einerseits Ihre Entschuldigung zu erbitten für die Mühe, die Ihnen die Befassung mit meinem Gekritzel bereitet haben muss, andererseits Ihnen Mitteilung zu machen von der unendlichen Freude, welche mir Ihre Fernsehserie "Kafka" – wie meisterhaft schon der Titel! – bereitet hat, gerade in diesem Jahr, in dem sich, wie Sie freilich nicht wissen können, mein Todestag zum hundertsten Male –

(Vorhang)

(Antonio Fian, 30.3.2024)