Wien – "Niemand sollte in so ein Prekariat gezwungen werden." Der Radiosender Ö1 gilt als Aushängeschild und Inbegriff des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dort, wo tagtäglich Qualitätsjournalismus praktiziert wird, arbeiten seit Jahren auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ausgebeutet werden. "Ich arbeite im Schnitt das Doppelte oder ein Drittel mehr", sagt ein aktuelles Redaktionsmitglied zum STANDARD. Aus Angst vor beruflichen Repressionen nur anonym. Wie auch andere aus dem ORF, die mit dem STANDARD über ihr Beschäftigungsverhältnis und die verschiedenen Gehaltsklassen auf dem Küniglberg sprechen.

Die freien ORF-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen protestieren schon seit vielen Jahren gegen die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Hier ein Foto aus dem Jahr 2012, das kaum an Aktualität verloren hat.
Matthias Cremer

Der Unmut ist bei einigen groß und changiert zwischen Frustration und Resignation. Dazu hat auch der Gehaltstransparenzbericht beigetragen, der die Ungleichheiten dokumentiert. ORF-Generaldirektor Roland Weißmann hat seine Belegschaft vor der Veröffentlichung Ende März 2024 darauf eingeschworen, sich nicht auf eine Neiddebatte einzulassen, und sie mit Argumenten und Zahlen gefüttert, warum der ORF so super ist. Das kam nicht bei allen gut an – schon gar nicht bei den Geringverdienern.

444.000 Euro Spitzenverdienst

Der ORF hat viele Klassen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es gibt an der Spitze Leute wie Ö3-Moderator Robert Kratky und Projektmanager Pius Strobl, die jenseits der 400.000 Euro brutto pro Jahr verdienen, und es existieren am anderen Ende der Skala einige, die auch nicht viel weniger Stunden hackeln, aber in ihrer Existenz gefährdet sind. Dafür sorgen etwa Verträge mit einer monatlichen Höchstgrenze von 137 Stunden.

Das Honorar bemisst sich an den Sendungen oder Sendungsminuten, die pro Monat produziert werden. Um den Qualitätsanspruch zu erfüllen, investieren nicht wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufig weit mehr Stunden, als am Papier dafür vorgesehen sind. Unbezahlt. Parallel dazu beschäftigt der ORF noch Freie mit maximal 400 Arbeitsstunden pro Jahr.

Kettenverträge

Der ORF genießt arbeitsrechtlich einen Sonderstatus. Er nützt den gesetzlichen Spielraum, um seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit solchen Kettenverträgen auszustatten. Sie können unendlich befristet werden. Bis es zu einem normalen Angestelltenverhältnis kommt, vergehen oft viele Jahre. Arbeiterkammer oder Gewerkschaft sprechen gerne von einer Grauzone, die dem EU-Recht widerspreche. Würde die Sache ausjudiziert, könnte der Europäische Gerichtshof die Verträge kassieren. Der ORF verweist auf die Gesetzeskonformität, und dass mit dem aktuellen Kollektivvertrag die exorbitanten Unterschiede bei den Gehältern kontinuierlich planiert würden. Im ORF gibt es derzeit fünf verschiedene Kollektivverträge – DER STANDARD berichtete.

Im Durchschnitt verdienen ORF-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter für eine Vollzeitstelle laut Rechnungshof rund 90.000 Euro. Eine Summe, von der Junge nur träumen können. Bei Ö1 etwa arbeiten derzeit nach STANDARD-Infos rund 120 Angestellte und 40 Leute, die mit dem 137-Stunden-Vertrag beschäftigt sind. Die genauen Zahlen möchte der ORF auf Anfrage nicht herausrücken. Im vergangenen Jahr war nach Betriebsratsangaben von rund 300 Leuten die Rede, die häufig als Freie für den gesamten ORF arbeiten. Insgesamt kommt der ORF auf rund 4.000 Beschäftigte.

"Man hat Angst davor, krank zu werden"

Für manche passt es, aber die meisten der Freien wollen angestellt werden. So auch eine Person, die bereits seit mehreren Jahren bei Ö1 arbeitet. Dabei geht es neben finanziellen Sicherheiten auch um die Befürchtung, gesundheitliche Problemen zu bekommen: "Man hat Angst davor, krank zu werden." Könne man deswegen beispielsweise nicht bei Redaktionssitzungen dabei sein, kann das dazu führen, dass alle Sendeplätze belegt sind und die Mitarbeiter leer ausgehen. "Keine Sendungen, kein Geld", lautet die einfache Formel. "Das macht die Planung wahnsinnig schwierig." Dazu komme noch, dass die Gehaltsabschlüsse sehr schlecht seien.

Krankenstände und Sozialversicherung sind ein großes Thema. Wenn es in der Abrechnungskette blöd läuft, stehen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter plötzlich ohne Versicherung da. Dieses Problem schilderte vor gut einem Jahr die Ö1-Mitarbeiterin Jana Wiese, die den Sender daraufhin verließ – DER STANDARD berichtete. Ein Krankenstandshonorar bei Ausfällen gibt es nur, wenn etwa für eine Sendung bereits vorgearbeitet wurde. Man müsse es sich leisten können, für Ö1 zu arbeiten, heißt es. "Die meisten Leute, die hier arbeiten, haben einen finanziellen Background, der ihnen das erlaubt." Ohne Absicherung gehe es nicht. Was dazu führe, dass die Redaktion nicht besonders divers sei.

Karotte vor der Nase

Manche Freie, etwa beim Fernsehen, kämpfen mit den gleichen Schwierigkeiten wie ihre Radiokollegen, andere wiederum kommen mit ihrem Gehalt gut über die Runden. Was sie sich über alle Abteilungen hinweg wünschen, ist eine Perspektive. Etwa, dass sie nach einer gewissen Zeit das Recht auf eine Anstellung haben. "Es wird immer wieder in Aussicht gestellt, aber man wird dann vertröstet." Eine Art Automatismus statt Willkür wäre eine Option, wie auch immer der aussehen könnte. Manche werden bereits nach einem Jahr angestellt, andere warten darauf zehn Jahre oder noch länger.

Ö1-Chefin Silvia Lahner soll bei einer Betriebsversammlung Ende des Jahres 2023 davon gesprochen haben, dass es bis Sommer 2024 eine Lösung geben soll. Danach sieht es allerdings nicht aus. Der ORF sagt nur lapidar, es werde "laufend an Lösungen gearbeitet". Die Freien würden weniger und bei Pensionierungen von Kolleginnen und Kollegen sukzessive in ein Angestelltenverhältnis überführt. Nach STANDARD-Infos möchte sich der ORF gerade von einer Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen, die auf Basis der 400-Stunden-Verträge arbeiten. Im Gegenzug könnten andere angestellt werden.

Leute am Pranger

Die von der schwarz-grünen Regierung verordnete Gehaltstransparenz sehen manche der Beschäftigten mit gemischten Gefühlen. "Für mich war es erstaunlich zu sehen, was Leute bei uns in Spitzenpositionen verdienen." Transparenz sei gut, die namentliche Zuordnung problematisch, denn: "Die Leute werden an den Pranger gestellt." Absurderweise würden jetzt teilweise auch prekär Beschäftigte mit den Spitzenverdienern in einen Topf geworfen: "Kolleginnen und Kollegen müssen sich im privaten Umfeld rechtfertigen, dass sie angeblich Topgehälter erhalten." Es wäre wünschenswert gewesen, nicht nur eine Liste mit den Spitzverdiensten zu veröffentlichen, sondern auch eine mit den Gehältern am anderen Ende der Skala.

Der aktuelle Kollektivvertrag

Eine gute Einordnung zu den Unterschieden und zur aktuellen Gehaltstabelle des Kollektivvertrags des ORF aus dem Jahr 2014 lieferte "Report"-Redakteur Yilmaz Gülüm auf X, vormals Twitter. Mit zehn Jahren Berufserfahrung verdiene ein Redakteur 4.027,99 Euro brutto im Monat, schrieb Gülüm. Laut ORF-Gehaltstransparenzbericht unterliegen 40 Prozent der Belegschaft dem aktuellen Kollektivvertrag.

Das daraus bezogene Durchschnittseinkommen liegt laut ORF rund 30 Prozent unter den alten Vertragssystemen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. "Die Leute machen in der Redaktion dieselbe Arbeit, verdienen aber komplett unterschiedlich." (Oliver Mark, 13.4.2024)